© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Das große Aufatmen
Nach dem Stasiakten-Urteil: Muß die Gauck-Behörde geschlossen werden?
Detlef Kühn

Zehn Jahre lang hat niemand etwas gemerkt. So lange hat die Gauck-Behörde an Wissenschaftler und Journalisten Stasi-Akten über Personen der Zeitgeschichte herausgegeben, ohne daß dies jemand beanstandet oder gar dagegen geklagt hätte. Natürlich wurden dabei, wie auch in anderen Fällen, Angaben, die in die Privatsphäre oder gar in den Intimbereich fielen, von den Sachbearbeitern geschwärzt. Politisch aufschlußreich war der Akteninhalt häufig dennoch, und manchmal war er den Betroffenen und ihren Organisationen auch peinlich.

Erst Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl fiel auf, daß diese Praxis gegen Paragraph 32, Absatz 1, Nr. 3 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes verstoßen könnte, wonach Unterlagen mit personenbezogenen Informationen über Personen der Zeitgeschichte nur dann zur Verfügung gestellt werden dürfen, „soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind“. Das Bundesverwaltungsgericht gab Kohl recht und entschied, er sei nicht nur eine Person der Zeitgeschichte, sondern auch „Betroffener“, also „Opfer“ der Staatssicherheit, weil diese DDR-Institution „rechtsstaatwidrig“ Informationen über ihn erworben habe. Die ihn betreffenden Akten dürfen daher nur mit seiner Zustimmung herausgegeben werden. Die Leiterin der Behörde, Marianne Birthler, entschied daraufhin, von nun an keine Akten über Personen der Zeitgeschichte mehr auszuhändigen. Dies soll über 2.000 Anträge von Historikern und Journalisten betreffen.

Nun begründen Art und Umfang der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit generell Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit der DDR. Ob dies allerdings auch für jedes Detail der Nachrichtengewinnung gilt, müßte untersucht werden. Wer vor 1990 auf dem Brocken eine Antenne in die Luft hielt und hoffte, damit Informationen auch über den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, befand sich außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes und hat somit weder gegen die Rechtsordnung der Bundesrepublik noch gegen die der DDR verstoßen. Zudem haben sich auch westliche Dienste solcher technischer Möglichkeiten bedient und tun dies auch heute noch. Sollte also - ein völlig konstruiertes Beispiel - Bundeskanzler Kohl am Telefon leichtsinnigerweise über Namen von Geldgebern geplaudert haben, so wäre eigentlich nicht recht einzusehen, worin jetzt seine Schutzbedürftigkeit liegen sollte, wenn das MfS entsprechende Aufzeichnungen angefertigt hätte.

Das Bundesverwaltungsgericht hätte die zitierte Vorschrift auch so auslegen können, daß nicht jeder, der irgendwann einmal in das Blickfeld der Staatssicherheit geriet, gleich automatisch als „Opfer“ zu betrachten wäre. Es hat aber anders entschieden, so daß jetzt auch die Präzedenzwirkung dieses Urteils für andere Fälle zu berücksichtigen ist. PDS, aber auch viele Westdeutsche, darunter Bundesminister, freuen sich über das Urteil.

Ministerpräsident Stolpe dürfte sich ärgern, daß er nicht selbst auf die Idee gekommen ist, zu klagen. Dann wäre manches Detail seines Umgangs mit dem Staatssicherheitsdienst geheim geblieben. Bürgerrechtler aus der DDR und die einschlägig tätigen Wissenschaftler befürchten ein Ende der Aufarbeitung der DDR-Geschichte; denn natürlich können die Kriterien des Urteils nicht nur für den Altbundeskanzler gelten, sondern müssen auch auf Personen der Zeitgeschichte in der ehemaligen DDR angewandt werden. Diese sind aber oft „Täter“ und „Opfer“ in einer Person. Sollen sie jetzt allein darüber befinden dürfen, ob und inwieweit „ihre“ Akten der zeitgeschichtlichen Forschung zugänglich gemacht werden dürfen? Der Historiker Hubertus Knabe, der viel beachtete Untersuchungen über die Westarbeit der MfS vorgelegt hat (JF 22/01), die jetzt wohl nicht mehr hätten veröffentlicht werden können, betrachtet das Stasi-Archiv bereits als „weitgehend zugemauert“.

Der Ausweg aus dem Dilemma scheint in einer baldigen Novellierung des Gesetzes zu liegen. Die meisten Bundestagsabgeordneten, die vor zehn Jahren das Stasi-Unterlagen-Gesetz beschlossen, dürften Folgen im Sinn gehabt haben, wie sie dann auch der jahrelang der Praxis der Gauck-Behörde entsprachen. Nicht völlig auszuschließen ist jedoch, daß schon damals der eine oder andere Politiker die Doppeldeutigkeit der Vorschrift erkannt und sie für den Notfall als Reißleine betrachtet hat, an deren Fallschirm ein außer Kontrolle geratener Umgang mit den Stasi-Unterlagen sanft auf dem Boden der politischen Zweckmäßigkeit landen könnte. Wird sich jetzt, wo dieser Fall eingetreten ist, im Bundestag eine Mehrheit finden, die diesen vom politischen Establishment ausdrücklich oder stillschweigend begrüßten „Erfolg“ wieder abschafft? Wer den Zustand unserer „politischen Klasse“ kennt, wird sich insofern keinen Illusionen hingeben.

Frau Birthler sollte jetzt prüfen, welche Möglichkeiten ihr noch bleiben, ihrem Auftrag trotz alledem gerecht zu werden, und diese dann beherzt nutzen. Das Bundesverwaltungsgericht hat nur den Fall Kohl entschieden, und - das wissen alle Juristen - jeder Fall liegt anders. Im übrigen paßt auch dieser Fall zu einer allgemeinen Entwicklung, in der das Interesse einzelner stets über das der Gesamtheit, hier an einer wahrheitsgemäßen Darstellung der Zeitgeschichte, gestellt wird.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.


 
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