© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Kolumne
Kranke Melkkuh
Andreas Mölzer

Insgeheim geht gegenwärtig eine Welle der Schadenfreude durch die Regierungskanzleien Europas: Ausgerechnet Deutschland, der Musterknabe der Europäischen Union soll den „blauen Brief“ aus Brüssel erhalten, da es offenbar die Stabilitätskriterien für den Euro kaum noch einzuhalten vermag. Die Regierung Schröder scheint schwere wirtschaftspolitische Versäumnisse verschuldet zu haben. Man wird der Krise nicht Herr und kommt aus den Schulden nicht heraus. Die nötigen Sanierungs- und Strukturmaßnahmen wurden bis zum heutigen Tag nicht durchgezogen.

Gewiß, solcherart hätte man die Bundesdeutschen spät, aber doch aus dem Faulbett des Wirtschaftswunders herausholen müssen. Sie hätten dann begreifen müssen, daß die Vereinigung mit der DDR eben ihren Preis fordert. Statt dessen ging alles den gewohnten Trott und plötzlich stellt sich heraus, daß Berlin der erste Fall für den erhobenen Zeigefinger Brüssels ist.

Nun wurde dieses Frühwarnsystem, demzufolge es vor weiteren Sanktionen zuerst einmal eine Mahnung durch diedie EU-Kommission gibt, just von den Deutschen selbst erfunden. Und - das ist schon die Ironie der europäischen Integrationspolitik - und sie stellen es als Erste in Frage. Gerhard Schröder äußerte sich nämlich überaus heftig gegen diesen „blauen Brief“ und verwies mehr oder weniger deutlich darauf, daß die Deutschen die Hauptfinanziers der Europäischen Union seien. Natürlich ist da dem Europa-Experten der christdemokratischen Opposition, Friedbert Pflüger, recht zu geben, der darauf lautstark erklärte, ausgerechnet Deutschland dürfe die Stabilitätskriterien nicht aufweichen.

Andererseits muß man aber Kanzler Schröder in dieser Sache verstehen. Er dürfte die Meinung der meisten Deutschen ausdrücken, obwohl ihren nicht bekannt ist, daß einzig und allein sie gemeinsam mit den wenigen anderen Nettozahler-Staaten, unter anderem Österreich, die europäische Integration bezahlen und mit der Aufgabe der D-Mark schwache Volkswirtschaften innerhalb der Union mehr oder weniger mitfinanzieren.

Deutschland hat gegenwärtig wieder um die vier Millionen Arbeitslose. Es hat in einem guten Jahrzehnt die Wiedervereinigung mit der untergegangenen DDR mit vielen Milliarden über die Bühne gebracht. Und es ist offenbar eine Melkkuh, die an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit steht. Darum ist die Schadenfreude über den „blauen Brief“ nicht angebracht. Vielmehr Nachdenklichkeit, was aus dem neuen Europa werden soll, wenn sein wirtschaftlich stärkstes Glied, Deutschland, Zeichen der Schwäche erkennen läßt.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der österreichischen Wochenzeitung „Zur Zeit“.


 
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