© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Die größte KP der Welt bleibt auf Kurs
China: In Peking tagte der diesjährige „Nationaler Volkskongreß“ / Reformen im Industrie-, Agrar- und Sozialbereich angekündigt
Kai-Alexander Schlevogt

Im Jahre 221 v. Chr. vereinigte Qin Shi-Huang, der erste chinesische Kaiser, das Reich der Mitte. Er legte die Grundsteine einer Bürokratie, die Voltaire später als das kunstvollste Strukturgebilde, das die Welt je gesehen hat, bezeichnete. Trotz sich wandelnder Ideologien wird China bis heute zentral regiert. Seine enorme Komplexität wird jedes Jahr erneut deutlich, wenn der Nationale Volkskongreß (NVK) zusammenkommt. Dann strömen fast 3.000 Volksvertreter, die sich fünf Jahre lang das Recht nehmen, für ein Fünftel der Erdbevölkerung zu sprechen, zur Großen Halle des Volkes auf dem manchmal zur Hölle werdenden Platz des Himmlischen Friedens nach Peking. Der NVK, der die vom Ministerpräsident angeführte Regierung (Staatsrat) wählt, ist theoretisch das wichtigste Organ der Staatssäule, die neben der Parteisäule Teil eines dualen Führungssystemes ist.

Doch tatsächlich gibt es keine Gewaltentrennung, da Funktionäre häufig Ämter in Staat und Partei innehaben. Statt Gesetze zu erlassen, bestätigt der NVK, der zwischen den jährlichen Sitzungen durch einen Hauptausschuß vertreten wird, in der Regel nur die Beschlüsse, die das Zentralkomitee hinter verschlossenen Türen faßt.

Dennoch bieten die Sitzungen einen Einblick in die Lage der Nation und zeigen Umrisse zukünftiger Entwicklungen. Die Flut von Reden richtig zu deuten ist so schwierig wie eine einheitliche Definition für den Begriff „Glück“ zu finden. Genau diese Unschärfe ist geplant, denn sie gibt den Führern genug Raum, nahezu alle Handlungen bürokratisch zu legitimieren. Der NVK ließ die folgenden strategischen Stränge erkennen: Reformen (von Staat und Gesellschaft) und Öffnung (für internationale Investoren) sowie drei neue Schwerpunkte, die man als Erhaltung (durch regionale und soziale Umverteilung), Kräftigung (durch Aufbau des Militärs) und Ausdehnung (durch Expansionen ins Ausland) deuten kann.

Anders als im Westen, wo der Markt „regiert“, setzt man in China auf die „lenkende Staatskunst“, die in fünf Jahrtausenden erprobt wurde. Danach hängt die Prosperität einer Nation von den moralischen Werten und dem Verhalten seiner obersten Führer ab, die als Vorbilder die Maßstäbe für alle ihnen untergeordneten Ebenen setzen. Daher liegt der chinesischen Regierung die Bekämpfung von Korruption und Verschwendungssucht besonders am Herzen.

Moralischer Kreuzzug gegen Korruption

Deshalb sollen jetzt konfuzianische Werte wiederbelebt werden. Der Abbau der nicht finanzierbaren Staatsbürokratie (die von „Gebühren“ lebt) ist geplant. Eine freie Presse und andere Gegengewichte, die Machtmißbrauch verhindern oder aufdecken, sollen entstehen. Führungskräfte bedürfen einer besseren Überwachung, zum Beispiel durch Aufsichtsräte mit unabhängigen Direktoren. Bislang setzte Peking aber eher auf spektakuläre Gerichtsprozesse, in denen ausgewählte Wirtschaftsverbrecher buchstäblich ihren Kopf für das Gemeinwohl hinhalten mußten.

Neben diesen Reformen im Bereich des unsichtbaren Kapitals ist das größte und häufig übersehene Problem die Umgestaltung der Landwirtschaft. Im feudalen China zersplitterte das Erbrecht den Grundbesitz. Verbleibende Güter wurden durch die Kommunisten vernichtet. Auf eine spätere Kollektivierung im Stile Stalins verzichtete Mao zwar, dafür bearbeiteten die 800 Millionen Bauern Kleinflächen, die den Einsatz von Maschinen unmöglich machen. Und im Falle der Zusammenlegung und Mechanisierung wären noch mehr Menschen arbeitslos. Kein Wunder, daß die Einkommen der Städter schneller wachsen als auf dem Lande. Deswegen wandern immer mehr Menschen in die Ballungszentren, die diese in Elendsviertel - Horten des Verbrechens - aufsaugen.

Private Unternehmer, die zur wichtigsten Wirtschaftskraft geworden sind, könnten viele Arbeitsstellen schaffen, wenn man ihnen keine Hindernisse in den Weg legt. Ein Teil der notwendigen Agrarressourcen könnte dann vorübergehend mit in anderen Bereichen durch höhere Wertschöpfung erwirtschafteten Geldern importiert werden - bis sich durch Absorbierung der überschüssigen Arbeitskräfte und Zusammenlegung der landwirtschaftlichen Flächen tragfähige Einheiten herausbilden. Dieser Weg verspräche mehr Erfolg als einfallslose Agrarsubventionen.

Bei der Reform der Staatsunternehmen darf nicht die Fusion von Betrieben im Vordergrund stehen, die dann als „nationale Monopole“ international kaum erfolgreich sein können. Genauso so sinnlos ist es, die Schulden der Staatsunternehmen in Aktien umzuwandeln und auf Treuhandgesellschaften zu übertragen, die mit dem neuen Besitz nichts anzufangen wissen. Statt dessen sollte die Führungsqualität der Betriebe verbessert werden - Größe allein war noch nie ein Garant für den Erfolg. Noch wichtiger ist es, den Privatunternehmen, die Staatsunternehmen übernehmen und sanieren können - und somit den Ausverkauf ins Ausland oder den Zusammenbruch vermeiden - mehr Freiheiten zu geben.

Um einen qualitativ hochwertigen Aufschwung zu erreichen, muß China vom faktorbedingten extensiven Wachstum den Übergang zur produktivitätsbedingten intensiven Entwicklung schaffen. Dies erfordert Innovation statt Imitation und eine grundlegende Aufwertung des Human- und Sozialkapitals. Die geplanten Reformen zielen aber nicht auf diese postmodernen Werte ab. Stattdessen werden durch defizitfinanzierte Staatsausgaben in Rekordhöhe einfache Infrastrukturprojekte vorangetrieben. In Zukunft sollten vermehrt visionäre Fortschrittsprojekte gefördert werden, etwa im Stile des neuen „Multimedia Super Corridor“ (MSC), der „Elektronischen Stadt“, die Malaysia derzeit aufbaut.

Mit der Modernisierung schreiten auch die Herausforderungen voran. Einfache, in der Vergangenheit erprobte Rezepte werden diese komplexen neuen Probleme nicht lösen. Auch Reformer dürfen sich nicht vor Veränderungen scheuen.

 

Dr. Kai-Alexander Schlevogt lehrte in China an der Peking Universität.


 
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