© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002

 
Zwischen Realität und Wunschwelt
Kino I: „Ali Zaoua - Auf den Straßen von Casablanca“ von Nabil Ayouch
Claus-M. Wolfschlag

Zwölf Lenze zählen sie, die marokkanischen Straßenkinder Ali, Kouka, Omar und Boubker. Ohne Familie hausen sie im Hafengebiet von Casablanca. Die kleine Vierergruppe hat sich von der Gang des älteren Straßenkinder-Führers Dib abgespalten, was zu Drohungen und Rivalitäten mit den alten Weggefährten führt. Ali träumt davon, wegzugehen, Seemann zu werden und die Welt zu sehen. Doch während einer Auseinandersetzung mit Dibs Bande wird er durch einen Steinwurf getötet. Seine drei Freunde beschließen daraufhin, ihrem Kamerad ein ordentliches Begräbnis zu organisieren, was ihnen mit Hilfe eines alten, wortkargen Seemannes (Mohamed Majd) schließlich gelingt.

„Ali Zaoua“, der zweite Film des 1969 geborenen Nabil Ayouch, Sohn eines Marokkaners und einer Französin, aufgewachsen in Paris ist ohne Zweifel ein Streifen, der bewegt und gefällt. Aber das ist auch beabsichtigt, soll er doch gefallen, schon um auf das Schicksal von Straßenkindern in der „dritten Welt“ aufmerksam zu machen.

Ayouch versteht es ausgezeichnet, der recht vorhersehbaren Handlung durch das Einfließen kindlicher Phantasien und tricktechnischer Mittel immer wieder märchenhafte Züge zu verleihen. Die harte soziale Wirklichkeit der Straßenkinder wird durch das Feld ihrer Träume geschickt durchbrochen. Ständig schwankt der Film zwischen der rauhen Realität und einem traumhaften Zugang zur Wunschwelt der Helden.

Der Regisseur wurde durch die Bekanntschaft zu einer in der Hilfsorganisation „Bayti“ engagierten Ärztin auf das Schicksal der Straßenkinder aufmerksam. Er wurde einem Team von Streetworkern vorgestellt, die er zwei Jahre lang bei ihrer Arbeit begleitete: „Durch sie bekam ich Einblick in diese Parallelwelt der Straße. Ich versuchte zu verstehen, wie diese Kinder leben, in welchen Codes sie untereinander kommunizieren ... wie sie denken, wie ihr Verhältnis zur Gesellschaft ist, wie sie ihren grundlegenden Bedürfnissen nach Nahrung, Kleidung nachkommen, wie sie überleben“, berichtet Ayouch.

Dieser direkte Kontakt ermöglichte Ayouch sehr lebensnahe Einstellungen, denen jegliche konstruierte Studioatmosphäre fehlt. Die jugendlichen Schauspieler und Statisten des Films wurden fast ausschließlich mit echten Straßenkindern besetzt.

Ob soviel anerkennungswürdigen Engagements bewegt sich Ayouchs Streifen allerdings auch zielsicher im politisch-korrekten Strom einer linksliberalen Öffentlichkeit, die bei Lachsbrötchen und Rotwein im gestylten Szenerestaurant nach dem Kinobesuch über das schwere Los der benachteiligten Kleinen aus Casablanca sinnieren möchte. Kein Wunder, daß solch ein Film in heutiger Zeit mit Auszeichnungen nur so überhäuft wird: „Bester Spielfilm“ auf dem Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg, „Bayard d’Or“ für den besten Schauspieler beim Namur Festival, Publikumspreise bei den Festivals in Amiens und Brüssel, „Filmpreis für Kinderrechte“ beim Unabhängigen Film-Fest Osnabrück.

Doch weshalb - abgesehen von den Auszeichnungen - macht ein Regisseur einen solchen Film? Weshalb sehen sich Menschen in der „ersten Welt“ einen solchen Film an? Weshalb wird „Ali Zaoua“ mit Preisen überhäuft? Es liegt wohl in starkem Maße an den Schuldgefühlen. Die „Reichen“, die das Geld haben, erleben anscheinend beständig dieses bohrende schlechte Gewissen, daß sie womöglich ihr angenehmes Leben nicht verdient haben könnten. Sie plagt der Gedanke, daß ihr Wohlstand vielleicht in kausalem Zusammenhang mit dem Elend und der Armut in der „dritten Welt“ stehen könnte. Und deshalb laben sie sich lustvoll-masochistisch an den Bildern, die ihnen gerade jene „Armen“, jene „Letzten“ als träumende, sensible, lebendige Menschen vorzustellen bemüht sind. „Ali Zaoua“ deutet dieses an - im ein Gebetsbuch lesenden Knaben, im reuigen Dieb, im sich waschenden Straßenjungen, im malenden Träumer, letztlich im ehrlichen Bemühen der drei Hauptfiguren, ein fürstliches Begräbnis für den verstorbenen Ali zu organisieren.

Nun verlangt heute jeder schlecht reimende Rapper „Respekt“ und meint damit vor allem Kritiklosigkeit gegenüber seiner Person. Doch wovor man Respekt haben soll, wird selten erörtert - auch angesichts der Straßenkinder von Casablanca nicht. Respekt, daß sie Klebstoff schnüffeln, um sich zu berauschen und das Hirn langsam zu zerstören? Daß sie anderen Menschen Brieftaschen stehlen? Daß sie sich schlagen und teils schwer verletzen? Daß sie einander vergewaltigen?

Nein, Respekt für diese Kinder kann dieser Film kaum vermitteln, Mitleid schon eher. Doch auch hier sind Zweifel angebracht. Schließlich wird offen dargelegt, daß viele der Kinder freiwillig auf der Straße leben, ein Leben scheinbar ohne Beschränkungen, das eine größere Anziehungskraft ausübt als die oft sicherlich schwierigen Familienverhältnisse oder eine vermeintlich langweilige Ausbildung. Die Schattenseite, daß auf der Straße ganz andere, „archaische“ Hierarchiekämpfe und Zwänge herrschen, verdeutlicht der Film allerdings durchaus ehrlich in seiner Schau auf Dibs Bande. Die Straßenkinder erscheinen als ein spezifisches Dekadenzprodukt, sich labend an den Abfällen jener Wohlstands- und Verwertungsgesellschaft, die selbst noch in einer verdreckten afrikanischen Großstadt wie Casablanca genug Geld und Müll abwirft.

„Ali Zaoua“ ist sicher ein Film, der berührt und stellenweise verzaubert. Doch man sollte sich nicht von seinem sehr offenkundigen sozialen Engagement benebeln lassen.


 
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