© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/02 15. März 2002


Gesundheit wird Privatangelegenheit
von Jens Jessen

Das Gesundheitswesen in Deutschland zählt unverändert zu den Wirtschaftszweigen mit den höchsten Beschäftigungszunahmen, vom Krankenhaus einmal abgesehen. 1970 arbeiteten 628.184 Menschen direkt in der Gesundheitswirtschaft von Westdeutschland, 1999 waren es 3,98 Millionen in Deutschland (Krankenhäuser, Praxen, Apotheken, Pflegeeinrichtungen, Psychotherapeuten, Heilpraktiker, Physio- und Ergotherapeuten, Kureinrichtungen, Gesundheitsämter, Kassenmitarbeiter). Rund 330.000 Arbeitsplätze bietet das Gesundheitswesen den zuarbeitenden Industrien und Handwerksbetrieben (Pharmaindustrie, Verbandmittel, Implantate, medizinische Einmalprodukte), elektromedizinisch-technische Geräte, Dentalprodukte etc. Jeder neunte Erwerbstätige in Deutschland ist direkt oder indirekt in der Gesundheitswirtschaft tätig. 1970 war es nur jeder 22. Ohne diese Dynamik wäre die Arbeitslosenzahl in unserem Land entschieden größer. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft setzt voraus, daß Dienstleistungen nicht durch bürokratische Hemmnisse ausgebremst werden. Die Verquickung von Strukturwandel und Wirtschaftswachstum ist in allen modernen Volkswirtschaften eminent.

In den „Entwicklungsperspektiven der medizinischen Versorgung“ hat Arnold 1997 darauf hingewiesen, daß die Entprivatisierung der Krankheit in Deutschland und die Kollektivierung des Krankheitsrisikos erst 120 Jahre alt sind. „Wenn die den heutigen Versorgungssystemen zugrunde liegenden Prinzipien als sakrosankt hingestellt werden, so wird verkannt, daß beim Entstehen der auf diesen Prinzipien beruhenden Versorgungssysteme ganz andere Ziele verfolgt wurden, als jedem Patienten alle Leistungen verfügbar zu machen, für die nach Expertenmeinung ein Bedürfnis besteht.“ In Westeuropa ist Gesundheit ein öffentliches Gut. Darum wird eine materielle Gleichheit der Bedürfnisbefriedigung im Gesundheitswesen als Ziel angestrebt. Für die lebensnotwendigen Bereiche wie Ernährung, Bekleidung und Wohnen ist das nicht der Fall. Arnold widerspricht der viel zitierten Ansicht, Gesundheit sei das höchste Gut. Er stellt lapidar fest, daß „Gesundheit oft bereitwillig aufs Spiel gesetzt [wird], wenn nur der damit verbundene Nutzen groß genug ist.“ Nur so ist zu erklären, daß trotz Kenntnis der gesundheitsschädigenden Wirkungen viele Menschen rauchen, Skilaufen und Fußball spielen. Damit machen sie deutlich, daß sie bereit sind, auf einen Teil ihrer Gesundheit zu verzichten. Gesundheit entlarvt sich damit als ein Konsumgut, das durch ein anderes substituiert werden kann. Die gravierenden Probleme in den Industrieländern sind vor allem die Zunahme der alten und sehr alten Versicherten, der Zuwachs an chronischen Krankheiten, die Steigerung der Zahl Pflegebedürftiger und der teure medizinische und medizintechnische Fortschritt. Dazu verringert sich bei hoher Arbeitslosigkeit die Zahl der Beitragszahler.

Mit den Finanzierungsmethoden des Gesundheitswesens in Deutschland durch die aus Beiträgen der abhängig Beschäftigten und der Arbeitgeber gefütterte gesetzliche Krankenversicherung sind diese Probleme ohne negative Einflüsse auf die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu lösen.

Die Neigung, dauernd Reformen anzukündigen und ohne durchschlagenden Erfolg teilweise durchzuführen, teilen alle EU-Länder. Damit sollen die Ausgaben für die Gesundheit verringert werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft zu erhöhen. Dieses Argument wirkt natürlich nur, solange die Arbeitgeber in Deutschland zum Beispiel mit der Zahlung des halben Beitrags zur Krankenversicherung so tun können, als ob dieser Beitrag nicht schon per se Lohn- bzw. Gehaltsbestandteil ist. Würde der Arbeitgeberanteil als Lohn bzw. Gehalt direkt an die Arbeitnehmer gezahlt, gäbe es dieses Argument nicht mehr. Schließlich argumentiert kein Arbeitgeber mit steigenden Versicherungsprämien für die Hausrats-,Feuer- oder Haftpflichtversicherung seiner Arbeitnehmer als Wettbewerbsminderung der deutschen Exportindustrie.

Gesundheitssysteme haben es mit der Versorgung länderspezifischer Populationen zu tun, die sich unter anderem durch Altersstruktur und Lebensbelastungen (Krieg, Gefangenschaft, Vertreibung, Nachkriegszeit, hohe Bevölkerungsdichte, Lärmbelastung etc.) sowie tradierte Verhaltensmuster wie Ernährung, Lebensstil, Drogenverbrauch erheblich unterscheiden. Gesundheitssysteme haben verschiedene, morbiditätsbedingte Herausforderungen zu bewältigen. Dennoch muß sich der Gesundheitsbereich dem internationalen Wettbewerb öffnen, damit sich die besten Systeme durchsetzen können. Das hat auch Gesundheitsministerin Ulla Schmidt erkannt, die in Berlin erklärte: „Für das Wachstum im Gesundheitsmarkt sind besonders die internationalen Gesundheitskooperationen wichtig. Unsere hoch spezialisierten Krankenhäuser ziehen zunehmend Patientinnen und Patienten aus den Ländern an, in denen Wartelisten bei Krankenhausbehandlungen üblich sind.“ Alle Erfahrungen sprechen dafür, daß der Wettbewerb zu Ergebnissen führt, die bürokratischen Einmischungen in ein äußerst differenziertes System überlegen sind.

In den letzten 23 Jahren haben sich sechs Minister in Deutschland um die sogenannte Sanierung des Gesundheitswesens mit bürokratischer Lenkung und Planungseingriffen bemüht, ohne einen durchgreifenden Erfolg zu erzielen. Die Äußerung, im Gesundheitssystem gäbe es Rationalisierungsreserven, ist trivial. Rationalisierungsreserven gibt es in allen Bereichen der Wirtschaft. Völlig unvermeidlich sind sie in einem System, in dem die Güter und Leistungen zum Nulltarif nach Bedürftigkeit verteilt werden und diejenigen, die über das Vorliegen eines Bedürfnisses entscheiden, durch seine Befriedigung ihr Einkommen erhöhen können.

Im deutschen Gesundheitssystem gibt es nach Ansicht vieler Gesundheitspolitiker eine Kostenexplosion. Der „Gelbe Dienst“ vom 11. Mai 2001 ist dieser Frage nachgegangen und zu einem erstaunlichen Ergebnis gelangt. Der von Geißler und Fink in den siebziger Jahren im Sozialministerium von Rheinland-Pfalz eröffnete Kampf der Sozialpolitiker gegen die „Kostenexplosion“, die sich in Sonntagsreden immer wieder findet, ist ein Gespenst.

Gemessen am Bruttoinlandsprodukt sind die Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in den letzten zehn Jahren unter sieben Prozent geblieben (1996) und bis 2000 auf 6,57 Prozent gesunken. Für die Leistungsausgaben der GKV kommt der „Gelbe Dienst“ zu einem ähnlichen Ergebnis: im Vergleich mit den 6,19 Prozent im Jahr 2000 war die Quote nur 1991 mit 5,91 Prozent niedriger. Der Trick, den nicht nur Geißler und Fink angewandt haben, um zu dem erwünschten Nachweis der Kostenexplosion zu kommen, wurde allgemein übersehen.

Der Laie stellt natürlich die berechtigte Frage, warum es bei nahezu konstanter Relation der GKV-Ausgaben und des Bruttoinlandsprodukt das Ärgernis steigender Beiträge von 12,2 Prozent auf 13,6 Prozent - und jetzt bald 14,0 bis 14,2 Prozent - gibt. Bis 1998 gab es eine enge Verknüpfung mit der steigenden Zahl der Arbeitslosen. Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe sind geringer als der Lohn, deshalb sind auch die Beiträge an die GKV niedriger. Die Arbeitslosen beanspruchen nicht weniger Leistungen als die Beschäftigten. Die Folge war, daß sich die Schere zwischen Beiträgen und Kosten öffnet. Von 1991 bis 1997 erhöhte sich die Arbeitslosenquote in Deutschland von 7,3 Prozent auf 12,7 Prozent. Die Folge waren Defizite in den Haushalten der einzelnen Krankenkassen, die nur durch Beitragssatzerhöhungen oder eine Erhöhung der Selbstbeteiligung der Patienten an den Gesundheitskosten ausgeglichen werden können.

Obwohl die Selbstbehalte unter der neuen Regierung in dem Gesetz „Gesundheitsreform 2000“ zum 1. Januar 2000 umfangreich abgebaut wurden, sorgte die abnehmende Arbeitslosigkeit von 4,28 Millionen im Jahr 1998 auf 3,89 Millionen im Jahr 2000 für eine ausgeglichene Haushaltslage der Gesetzlichen Krankenversicherung. Dieser Trend hat sich im Jahr 2001 nicht fortgesetzt. Die aktuelle Schätzung der Bundesanstalt für Arbeit geht von einer Arbeitslosigkeit von vier Millionen aus. Wenn die Befürchtungen für das Jahr 2002 wahr werden, wird die Arbeitslosenzahl von 1998 wieder erreicht, eventuell sogar übertroffen. Die Auswirkungen auf die Beitragssätze der Krankenkassen wären verheerend.

Aber nicht nur die Arbeitslosigkeit bereitet den Kassen Kopfzerbrechen: die Koppelung der Krankenkassenbeiträge allein an die Löhne und Gehälter ist obsolet, da das klassische Einkommen aus Erwerbsarbeit an Bedeutung verliert. Immer mehr Menschen wollen Teilzeitbeschäftigungen und keine Vollzeitarbeit. Dadurch verringern sich die Einnahmen der GKV (bei gleich bleibendem Anspruchsverhalten der Versicherten). Außerdem werden durch die demographische Entwicklung die Krankenversicherungen stärker belastet.

Die Gesetzliche Krankenversicherung verliert an Bedeutung . In Deutschland setzte sie 2001 rund 260 Milliarden um. Für den gesamten Gesundheitsbereich werden etwa 560 Milliarden Mark ausgegeben. Die Ernährung kommt in Deutschland nur auf 400 Milliarden Mark. In den USA beansprucht der Gesundheitsbereich rund 890 Milliarden Dollar oder eine Billion Euro. Das sind 16 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die Wachstumsraten in den Industrieländern deuten an, daß schon bald pro Jahr mit einem Ausgabenvolumen von bis zu drei Billionen Euro zu rechnen ist. Die Fixierung auf die Gesetzliche Krankenversicherung blendet damit eine Entwicklung aus, die eine erhebliche Dynamik aufweist.

Wenn das Bruttoinlandsprodukt in Relation gesetzt wird zu den Gesamtausgaben für Gesundheit, zeigt sich eine ständige Zunahme von 1990 mit 12,5 Prozent bis heute auf rund 15 Prozent. Einmal wachsen die Ausgaben der Privaten Krankenversicherung stärker als die der GKV, zum anderen aber entwickelt sich ein Gesundheitsmarkt, der zu hundert Prozent privat finanziert wird: Ernährung, alternative Medizin, Fitneßstudios, Sportkleidung etc.)

Eine Forsa-Umfrage im April 1998 zeigt, daß die Bevölkerung bereit ist, neben den Ausgaben für ihre Krankenkasse privat Geld auszugeben, um gesund zu bleiben. Eine Emnid Umfrage aus dem Jahr 2001 bestätigt dieses Ergebnis. Danach sprechen sich 74 Prozent der Befragten dafür aus, daß sich die GKV auf die wesentlichen und absolut notwendigen Leistungen konzentrieren muß. Die Ergebnisse dieser Umfragen widersprechen damit der Politik der Fürsorge, die Unmündigkeit der Verbraucher voraussetzt. Der mündige Bürger will auch im Gesundheitsbereich sein Leben selbst gestalten.

Die Politiker bezeichnen ihr Tun mit dem Wort Solidarität. Versicherte und Leistungserbringer sind bei Rationierung von Gesundheitsleistungen jedoch der Ansicht, daß Arzneibudgets und Richtlinien, Praxisbudgets, Heil- und Hilfsmittelbudgets, Investitionsstaus bei den Krankenhäusern und Beschäftigungsbedingungen in den stationären Einrichtungen jede Solidarität zerstören. Die Vorschläge für eine Änderung im System der GKV liegen weiter auf Eis.

Eine moderne Gesundheitspolitik muß davon ausgehen, daß Gesundheit für die Menschen ein Konsumgut ist. Sie muß das Beschäftigungspotential des Gesundheitssektors ausschöpfen und die Gesundheitsnachfrage als Kostenfaktor der Arbeit beseitigen.

Diese Ziele sind zu erreichen, wenn die nötige Reform auf einigen wenigen Grundgedanken beruht. Sachverständigenrat, Institute und einzelne Gesundheitsökonomen haben entsprechende Vorschläge: Erstens, Gesundheit ist ein Gut, dessen Markt und Preisbildung in den Rahmen einer Solidargemeinschaft zu stellen ist. Zweitens, die Mitgliedschaft in einer solchen Solidargemeinschaft zur Sicherung von individuell unkalkulierbaren Großrisiken hat auf Zwang zu beruhen, um die Ausbeutung durch Sozialhilfe zu verhindern. Drittens, Mitgliedschaft und Beiträge sind von den Arbeitsverhältnissen zu trennen. Die Nachfrage von Gesundheitsleistungen darf nicht automatisch zum Kostenfaktor am Arbeitsplatz werden. Viertens, die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen wird dadurch von der arbeitsmarktpolitisch motivierten Stabilisierung der Beiträge und von der willkürlich rationierenden Deckelung der Ausgaben befreit. Fünftens, was die Gesellschaft für Gesundheitsleistungen ausgeben will, hat sie selbst zu entscheiden und nicht die Politiker mit ihren bevormundenden Budgetvorgaben. Die Gesundheitsangebote werden weltweit im Wettbewerb stehen. Das Land, das mit einer modernen Gesundheitspolitik einen wettbewerbsfähigen Gesundheitsmarkt ermöglicht, wird den sechsten Kondratieff-Zyklus an- und einführen und den eigenen Arbeitsmarkt entscheidend entlasten können.

Die Erhaltung der Gesundheit in einer älter werdenden Gesellschaft bekommt eine herausragende Rolle in diesem Gesundheitsmarkt. Die Reparatur von Krankheiten verliert ihre Vormachtstellung. Gesundheit ist auch dann noch ein besonderes Gut. Der Versicherte wird jedoch feststellen, daß er am besten versorgt wird, wenn er auch auf diesem „etwas anderen“ Markt Kunde sein darf und nicht verwalteter Kostenverursacher ist.

 

Prof. Dr. Jens Jessen ist Volkswirt und schrieb zuletzt in JF 18/02 über eine Privatisierung der Krankenkassen.


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