© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
Die andere Form des Kolonialismus
Indiens bekannteste Schriftstellerin Arundhati Roy klagt die Arroganz der westlichen Welt an
Rolf Stolz

Arundhati Roy hat mit „Der Gott der kleinen Dinge“ Indien und der Welt den vielleicht beeindruckendsten Erstlingsroman der letzten Jahre und eines der faszinierendsten Bücher über die Verwobenheit von Geschichte und Gegenwart, Schuld der Eltern und Leiden der Enkel, Lebensanfang und Erwachsenwerden geschenkt.

Schon dieser Welterfolg war alles andere als unkritisch gegenüber einer im buchstäblichsten Sinne mörderischen Wirklichkeit; er war zwar zunächst einmal ein Roman über Indien und Inder, aber zugleich erhob die Autorin eine ebenso gefühlsmächtige wie analytische Anklage gegen westliche Arroganz und Ignoranz. Auch ihr neuer Essayband „Die Politik der Macht“ beginnt mit einem Aufsatz, der eine lokale Geschichte erzählt - die des Narmada-Stauprojektes und der dadurch ausgelösten Widerstandsbewegung. Aber auch hier wird bereits von der Globalisierung, dieser „anderen Form der Kolonialherrschaft, ferngesteuert und digital ausgeübt“ gesprochen - und damit von den weltumspannenden Machenschaften der großen Industrieländer, von der Verflechtung der westlichen Staudamm-Mafia mit der korrupt-egoistischen herrschenden Kaste Indiens.

Wer an den Schlaf der Welt rührt, darf weder allgemeine Zustimmung erwarten, noch Ruhe für den Rest seines Lebens. Auch Arundhati Roy, vor kurzem noch als Ikone indischer nationaler Größe verehrt, macht diese Erfahrung. Kaum hatte sie jenen Konsens verlassen, den die Mächtigen ebenso wie ihre macht- und charakterlosen Gefolgsleute verbissen verteidigen, da wird sie ins Gefängnis geworfen und mit Schlimmerem bedroht. Und auch hierzulande geben diejenigen sie zum Abschuß frei, die unter Solidarität mit den Amerikanern die bedingungslose Unterwerfung unter die Befehle der US-Regierung verstehen. Hannes Stein etwa wirft ihr in seiner Besprechung von „Die Politik der Macht“ (Die Welt, 2. März) vor: „Arundhati Roy lügt.“ Dies sagt jemand, der uns an gleicher Stelle vorschwindelt, die Autorin hasse „die Amerikaner so sehr“ und der dumm-frech behauptet, im „Gott der kleinen Dinge“ gäbe es nur böse Mächtige und gute Machtlose, aber keine einzige ambivalente Figur.

Und Chacko? Und Vellya Paapen? Nein, Arundhati Roy lügt nicht. Niemand ist ganz frei von Irrtümern und Fehleinschätzungen, auch und erst recht kein Schriftsteller. Aber in aller Regel übertreibt die Autorin weder, noch verfällt sie in einseitig-einäugige Betrachtungsweisen. Sie ist keine hysterisch-paranoide Agitatorin, wie Hannes Stein mit dem fettgedruckten Etikett „eine ganz furiose Lady“ uns glauben machen will. Man nehme nur einmal, wie vorsichtig sie die niemals staatlicherseits berechnete Zahl der durch Staudammbau Vertriebenen in Indien schätzt, wie differenziert und gerecht sie zwischen Volk und Regierung der USA unterscheidet. Auch hier fallen die Verleumdungen auf die Verleumder zurück, die natürlich nicht begeistert sind, wenn Arundhati Roy die dubiose bis desaströse Rolle der etablierten westlichen Medien im globalen Propagandafeldzug der USA geißelt.

Was die Nachbeter amerikanischer Allmacht im Gefolge großkapitalistischer Sonnenkönige an dieser Frau so empört, ist, daß sie rücksichtslos die auf Maximalprofit und Naturzerstörung aufgebaute „neue Weltordnung“ der Globalisierung analysiert und attackiert, daß sie sich eindeutig auf die Seite der „Milliarden Ausgeschlossenen“ schlägt, wie John Berger die Globalisierungsverlierer in seinem Vorwort nennt. Wenn Roy von der Notwendigkeit einer „Demontage des Großen“ spricht und zugleich am Beispiel der Staudämme aufweist, daß nur kleine, überschaubare Projekte mit demokratischen Zielen und ökologischen Erfordernissen vereinbar sind, so nimmt sie ein Leitmotiv ihres Romans wieder auf: die kurzfristige machtpolitische Unterlegenheit und langfristige moralisch-spirituelle Überlegenheit der einfachen Menschen, der Armen und Unterdrückten.

Arundhati Roy weiß, daß der Kampf für Menschenrechte und Freiheit letzten Endes im Weltmaßsta ausgetragen werden muß - und zwar gegen diejenigen, die mit den Atomwaffen einen Krieg gegen den ganzen Planeten und gegen die Naturelemente zu beginnen drohen. Den Protest nennt sie „das Einzige, was wirklich globalisiert werden sollte“. Der weiterhin und mehr als je zuvor mögliche Dritte Weltkrieg wäre zugleich ein Dritte-Welt-Krieg, bei dem die Erste Welt auf militärischem Gebiet ihren Export negativster Dinge (Giftmüll, im Westen verbotene Pestizide, Rüstungsgüter) in die südliche Hemisphäre fortsetzt und sie dort eskalieren.

Als „Regel Nummer eins“ für die eigene Arbeit betrachtet die Autorin: „Es gibt keine Regeln“. Voll ernster Ironie erklärt sie sich selbst als „unabhängige mobile Republik“. Diese radikale Unabhängigkeit - „Ich bin eine Erdenbürgerin. Ich besitze kein Land und habe keine Fahne.“ - mag man als illusionär und unpolitisch kritisieren, aber man sollte eine solche Haltung der Parteinahme für die Menschen und gegen die Parteien, Koalitionen oder Staatsverbände in ihrer Unbedingtheit und Unbestechlichkeit respektieren. Arundhati Roy ist gerade deshalb zur Stimme eines anderen, besseren Indien geworden, weil sie sich dem nationalistischen Taumel versagt hat, weil sie, die der uralten Minderheit der syrischen Christen (Malabar-, Thomaschristen) entstammt, weder blind den „American & European Way of Life“ anbetet, noch die gesamte westliche Kultur in Bausch und Bogen verdammt. Wenn sie an „Kolonialismus, Apartheid, Sklaverei, ethnische Säuberungen, biologische Kriegsführung, chemische Waffen“ erinnert und daran, daß vom Westen „Nationen ausgeplündert, Kulturen ausgelöscht, ganze Völker ausgerottet“ wurden, wenn sie die amerikanischen Machtinhaber als Rumpelstilzchen oder „König Rumpel“ verspottet, dessen Reich das Kapital und dessen Eroberungen die aufstrebenden Märkte sind, macht sie sich natürlich hierzulande so manchen Feind. Erst recht, wenn sie daran erinnert, wie die USA immer wieder Diktatoren und Terroristen großgezogen haben - etwa die afghanischen „Freiheitskämpfer“ à la Hekmatyar oder bin Laden, die allerdings dann später ihrem einstigen Kumpan und Förderer gegenüber Gehorsam und Dankbarkeit vermissen ließen. Sie beschreibt detailliert die amerikanischen Ölinteressen in Afghanistan und die einstige enge Kooperation mit den Taliban, dieser Schöpfung des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Völlig zu Recht stellt sie fest, daß der Terrorismus als Symptom einer Krankheit bekämpft werden muß, deren weltweite Überwindung an erster Stelle stehen sollte.

Gegen die imaginär-papierenen Scheinwerte der Waren- und Finanzwelt verteidigt Arundhati Roy die wahren Werte des menschlichen Lebens - Güte, Schönheit, Wahrhaftigkeit, innere Größe. Sie wehrt sich gegen alle Versuche des großen weltumspannenden Kapitals, die Naturressourcen ebenso wie die Politik zu privatisieren und möglichst sogar „das Leben und den Reproduktionsprozeß“ unter Kontrolle zu bekommen. Sie denunziert die verkommenen „Eliten“ der Dritten Welt, die von den Multis Korruptionsgelder einstreichen und dafür ihre eigenen Länder zerstören. Sie entlarvt die Verflochtenheit zwischen dem liberalsozial-konservativ-sozialistischen Establishment Indiens (Kongreßpartei und andere) und den chauvinistischen Ultras der BJP: „Während der eine Arm den stückweisen Ausverkauf der Nation betreibt, dirigiert der andere Arm zur Ablenkung einen heulenden Gesang in den wildesten nationalen Tönen. (...) Nationaler Ausverkauf und kultureller Nationalismus sind siamesische Zwillinge.“

Zwei der sieben Aufsätze des Buches stammen aus dem 1999 auf deutsch erschienenen Band „Das Ende der Illusion. Politische Einmischungen“ zwei waren bereits im vergangenen Herbst in der deutschen Presse - in der FAZ bzw. im Spiegel - zu lesen. Allen Texten gemeinsam ist: Sie lohnen eine intensive Lektüre, die über den oberflächlichen Häppchen-Konsum des üblichen Zeitungslesers hinausgeht. Sie lassen uns tiefer blicken als der Schlagzeilen-Journalismus, weil sie gedanklich und gestalterisch zu einer Literatur gehören, die im besten und tiefsten Sinne Welt-Literatur ist.

Arundhati Roy: Die Politik der Macht. BTB-Verlag, München 2002, 313 Seiten, 8 Euro


 
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