© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002

 
Verteidiger der Vergangenheit
Deutsche Schriftsteller: Am Sonntag feiert Martin Walser seinen 75. Geburtstag
Doris Neujahr

Vor vier Jahren, mit über siebzig, hat Martin Walser eines seiner schönsten Bücher veröffentlicht: „Ein springender Brunnen“, das über seine Kindheit und Jugend zwischen 1932 und 1945 berichtet. Walsers Alter ego heißt Johann. Aufgewachsen in kontaminierter Zeit, verfügt er dennoch über eine eigene, autonome Kindheitswelt mit all dem Zauber, der später von Erwachsenen so sehnsüchtig erinnert wird.

Das Buch ist eine Verteidigung der eigenen Vergangenheit gegen die Angriffe der Gegenwart. Denn „der Umgang mit der Vergangenheit (wird) von Jahrzehnt zu Jahrzehnt strenger normiert. Je normierter dieser Umgang, um so mehr ist, was als Vergangenheit gezeigt wird, Produkt der Gegenwart. Es ist vorstellbar, daß die Vergangenheit überhaupt zum Verschwinden gebracht wird, daß sie nur noch dazu dient, auszudrücken, wie einem jetzt zumute ist beziehungsweise zumute sein soll.“ Der Raub der eigenen Erinnerungen aber nimmt den Individuen den Rest an Autonomie gegenüber der äußeren Welt. In „Ein Springenden Brunnen“ hat Walser die verlorene Zeit wiedergefunden und die Wurzel seiner vielfach bezeugten inneren Freiheit offengelegt.

Die Autobiographie ist das Gegenstück zu seinen zahlreichen Gesellschaftsromanen. Der erste, „Ehen in Philippsburg“, erschien 1957. Wie die meisten Bücher Walsers spielt er in der bürgerlichen Mittelschicht, unter den Aufsteigern des Wirtschaftswunders, die durch ihre soziale Konditionierung schwere Deformationen erleiden. In „Jenseits der Liebe“ (1976) hat die Hauptfigur auch ihr Privat- und Gefühlsleben vollständig den Ansprüchen des Firmenchefs unterworfen. Ihre Selbstentfremdung macht sie zum beflissenen „Freundlichkeitsgenie“ und Anhängsel betrieblicher Prozesse. Walsers Literatur liest sich als ein Panorama der bundesdeutschen Angestelltengesellschaft, deren Angehörige den vorgefundenen Machtstrukturen keine moralische oder geistige Eigenständigkeit mehr entgegenzusetzen haben.

Diese autoritäre Haltung wird heute als historisches Phänomen, als Signum der Adenauer-Zeit abgetan. Walser hat gezeigt, daß die Reformbewegungen der siebziger Jahre mit ihrem Wortgeklingel über Emanzipation, Selbstverwirklichung und antiautoritären Aufbruch den allgemeinen Opportunismus eher noch verstärkt und den sozialen Zwang ins Bösartige und Ideologische gewendet haben: „professoral abgestützt, habermaslegitimiert, adornogesegnet“, wie er 1997 in einem Interview spottete. Gleichzeitig äußerte er sich über die aktuellen „Platzanweiser“ der Gesellschaft, die 68er. Sie seien „hemmungsloser, rücksichtsloser, dogmatischer, polemischer als die früheren. Die Linken können schmerzlicher verletzen.“

Ihre Verbissenheit hat Walser aus einer kollektiven Neurose, dem deutschen Selbsthaß, erklärt. Seit den siebziger Jahren hat Walser das gestörte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation als Rufer in der Wüste immer wieder thematisiert. In dem Aufsatz „Deutsches Stilleben“ schrieb er: „Die deutsche Seele, ob sie schwarz oder rot heuchelt, ist ungücklich.“ Das war noch unter den Bedingungen der Teilung verfaßt, die Walser für widernatürlich und ungesund hielt, weshalb er forderte, die DDR genausowenig wie die BRD anzuerkennen. Anders als seine deutschen Schriftstellerkollegen war er in der Lage, politisch zu argumentieren. Er mahnte, das nationale Selbstbild nicht sklavisch vom Ausland abhängig zu machen und lediglich zu moralisieren, wo eindeutig machtpolitische Interessen wirksam sind. „Eine Gemeinschaft, egal ob Volk oder Gesellschaft, die sich nicht traut, ihre Geschichte selber so zu schreiben, wie sie sie empfindet, ist wie ein Mensch, der sich von Ärzten sagen lassen muß, wer er sei. Den öffentlichen deutschen Zungen ist das Gefälschtsein zur zweiten Natur geworden.“

Dabei ist die Nation für Walser kein metaphysischer Wert, vielmehr eine historische Stufe, die eines Tages überwunden sein wird. Zur Zeit aber ist sie noch die wirksamste kollektive Realität, auf die das Individuum nicht verzichten kann. Diese Einsicht war umso bemerkenswerter, weil Walser weder aus der DDR noch aus Ostdeutschland, sondern vom Bodensee stammt, also keinen persönlichen Phantomschmerz abzuarbeiten hatte.

Wer Walser kannte, für den war seine Frankfurter Friedenspreisrede 1998, in der er vor der politischen Instrumentalisierung der NS-Vergangenheit und vor der „Zementierung unserer Schande“ durch das geplante Holocaustdenkmal warnte, keine wirkliche Überraschung. Ein intellektuell überforderter Ignaz Bubis setzte danach das böse Wort vom „geistigen Brandstifter“ in Umlauf, worauf ein Kritikersturm einsetzte, der auf Walsers moralische Erledigung abzielte.

Der überstand den Tumult gänzlich unbeschadet. Heute erscheint die Kampagne als ein Wendepunkt und, wenn man sich der aggressiven Lynchstimmung erinnert, die während des Historikerstreits und noch 1993/94 gegen den sächsischen CDU-Politiker Steffen Heitman aufkam, bereits wie ein Rückzugsgefecht. Mittlerweile kann man auf den anachronistischen Zug, der da noch einmal der historischen Gruft entstiegen war, amüsiert zurückblicken: Auf die um ihr Ideologiekapital besorgten Zeitgeistritter aus den Redaktionsstuben, auf die halbgebildeten Politiker, die außerhalb der PC-gesättigten Liturgie keine Sprache und Begriffe besitzen, auf die berufsmäßigen Verwalter deutscher Schuld, die um ihre beste Einnahmequelle bangten, auf die neurotischen Wut-und-Trauer-Orgiasten: Allesamt gehobene Angestellte, die ihre Pfründe und falschen Gewißheiten - vor allem die Lebenslüge, sie seien freie Menschen, keine hochdotierten Bediensteten - verteidigten. Getroffen heulten sie auf, als Walser bei ihnen die „Banalität des Guten“ konstatierte.

Martin Walser hat darüber nie vergessen, daß seine wahre Profession die Literatur ist. Diese Selbstbeschränkung hat ihn vor Verbitterung und künstlerischem Verschleiß bewahrt. Erst im letzten Sommer erschien „Der Lebenslauf der Liebe“, ein 525 Seiten starker Roman - sein achtzehnter! Der Brunnen seiner dichterischen Phantasie und Sprachgewalt ist unerschöpflich. „Ich wachte erst auf, als ich sah, wie deutsche Geschichte täglich für Politik der Sack-und-Asche-Phrase geopfert wurde.“

Endgültig alarmierte ihn die Erkenntnis, daß dieses ungefragte Opfer auch seine eigene Kindheit einschloß. Beide hat er in seinem gewaltigen Werk zusammengeführt, in ein gerechtes Licht gerückt und damit ein Beispiel gegeben. Als Schriftsteller und engagierter Bürger ist Martin Walser, der am 24. März 75 Jahre alt wird, für uns ein Glücksfall.


 
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