© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    13/02 22. März 2002


CD: Pop
Nachdenklichkeit
Peter Boßdorf

Wer eine CD einlegt, will oft eine Wirkung nicht primär auf sich selbst, sondern auf andere erzielen. Diese anderen müssen nicht zugegen sein. Es genügt die Vorstellung ihrer Zeugenschaft: Die würden staunen, wenn sie hören könnten, wer ich wirklich bin. Musik kommuniziert persönliche Attribute, die der Hörer an sich wahrgenommen wissen möchte. Man kennt das Phänomen von Halbwüchsigen im Auto, die die Mitwelt an ihrem Geräuschkonsum Anteil nehmen lassen. Sie wollen zum Ausdruck bringen: Schaut her, wir sind jung, wir sind verwegen, wir sind sexuell attraktiv und wir sind auf Zack, weil wir uns nur aus den obersten Rängen der aktuellen Asozialencharts bedienen. Der Lustgewinn des Augenblicks tröstet darüber hinweg, daß die eigentlichen, anthropologisch vorgegebenen Ziele in der Regel zumindest auf diese Weise nicht erreicht werden. Der Kunstgenuß tritt vor der Lebensbewältigung zurück.

Ein Zusammenhang zwischen sozialer Lage und musikalischen Ansprüchen ist zu vermuten. Je höher die Schicht ist, desto größer ist tendenziell - mental und materiell - die Möglichkeit, sich einen Marktüberblick über die vielfältigen Angebote zur Erzeugung eines subtilen Persönlichkeitsprofils zu verschaffen (und die Wahl dann auch zu realisieren). Das Duo Deine Lakaien ist, so betrachtet, als ein typisches Mittelschichtsphänomen anzusehen. Ernst Horn als Komponist und Alexander Veljanov als Texter und Sänger kultivieren mit Erfolg eine künstlerische Authentizität, ohne diese mit Unzugänglichkeit für breitere Hörerschichten zu verwechseln. Dies gilt auch für ihre neueste Veröffentlichung: Wer „White Lies“ (Chrom/Columbia/Sony) goutiert, hat die musikalische Gosse weit hinter sich gelassen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, vor lauter Komplexen eine Neigung zu Unhörbarem vorzuspiegeln zu wollen. Darüber hinaus zelebriert das Album eine gepflegte und vor allem folgenlose Melancholie, die das Maß wahrt. Dem Eindruck, daß sie sich jenseits der Musik und einiger allgemeinmenschlicher Betrachtungen einer weltanschaulichen Leidenschaft hingeben könnten, wehren die beiden Künstler nachhaltig. In der Tat und mit Bedacht fallen sie daher aus dem atmosphärischen Rahmen jenes Sammelsuriums der Stile und Bekenntnisse, das man etwas hilflos „Dark Wave“ getauft hat. Die Befürchtung, daß eigentlich alles längst gesagt wurde und die Metaphern des Trübsinns nicht mehr wirklich neu kombiniert werden können, schaffen aber auch sie nicht aus der Welt. Es ist die schauspielerische Leistung, so entrückt und zugleich so präsent zu singen, die im Verbund mit einer effektsicheren Komposition die Aura des Bedeutungsschwangeren aufrechterhält. Die Destruktivität kommt auch dort nicht zu ihrem Recht, wo erklärtermaßen eine Anregung von Michel Houellebecq aufgegriffen wird.

Das Leiden an der Welt steigert nicht allein die Freude an der Tiefe der eigenen Empfindung, sondern wird zum Empörungsschrei bei den irischen Musikern Ronan Harris und Mark Jackson, die unter VNV Nation firmieren. Der Schick der totalitären Ästhetik der alten Moderne, die sie zitieren, kann und soll ihr humanes Pathos nicht verdecken. Die futuristischen Ideale sind in der Geschichte verraten worden. Statt dessen will die bürgerlich-materialistische Episode einfach kein Ende nehmen. „Futureperfect“ (dependent/ spv) plädiert für zeitlose Orientierungen gegen einen Fortschritt, der nur eingebildet ist. Dies ist ungewöhnlich. Nicht minder ungewöhnlich sind die musikalischen Stilmittel, derer sich das Duo bedient, um ausgerechnet eine derartige Botschaft zum Ausdruck zu bringen. Ihre Version von „Futurepop“ amalgamiert die belebende EBM-Dynamik mit dem melodischen Liebreiz des unvergessenen archaischen Elektropop. Damit sorgen sie für eine neue Nachdenklichkeit auf dem Tanzboden.


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