© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
"Die Benes-Dekrete sind diskriminierend"
Der Fraktionsvorsitzende der ungarischen Regierungspartei Fidesz, József Szájer, über Benes-Dekrete, EU-Osterweiterung und den Wahlkampf in Ungarn
Alexander Barti

Herr Dr. Szájer, nachdem der Ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán erklärt hat, daß die Benes-Dekrete annuliert werden müßten, munkelt man von einer "Achse" Budapest-Wien-München. Gibt es eine Kooperation zwischen den drei Ländern, die diese Vemutung rechtfertigt?

Szájer: Die Dekrete hängen nicht mit einer "Achse" zusammen; es geht vielmehr darum, daß die Zusammenarbeit einer Region - die Anrainerstaaten der Donau -, die historisch immer miteinander verflochten war, auf der Regierungsebene "angekommen" ist. Natürlich wird diese Zusammenarbeit dadurch erleichtert, das die Länder von bürgerlichen Parteien regiert werden. Von einer "Achse" kann aber keine Rede sein.

Kann man behaupten, daß für Ungarn das Verhältnis zu Österreich und Deutschland wichtiger ist, als zu den Ländern der "Visegráder-Gruppe" (V4: Polen, Tschechei, Slowakei, Ungarn)?

Szájer: Nein, das glaube ich nicht, denn die V4 bildet eine regionale Einheit und hat eine ähnliche Geschichte durchlebt. Es war im übrigen die Regierung Orbán, die die V4 wiederbelebt hat, nachdem es zur Zeit der sozialistischen Vorgängerregierung, also vor 1998, keine Gipfelgespräche gegeben hat. Wir bemühen uns also nicht nur um die Europäische Union und das österreichische und bayerisch-deutsche Verhältnis, sondern natürlich auch um unsere anderen Nachbarn - und zwar gleichermaßen.

Viele Analysten gehen davon aus, daß die "Visegrád-Gruppe" durch Orbáns Aussage bezüglich der Benes-Dekrete "gestorben" ist.

Szájer: Nein, das stimmt nicht; es gab einige Irritationen, aber das hängt vor allem mit den Wahlen in Tschechien und der Slowakei zusammen - es gab seitdem schon einige Treffen der Außenminister; in der Frage der Agrarförderung durch die EU wollten wir einen gemeinsamen Standpunkt der V4 erreichen; das ist uns nicht gelungen, aber das heißt nicht, daß damit die Zusammenarbeit beendet ist.

Wird die EU-Osterweiterung mit den Benes-Dekreten stattfinden?

Szájer: Wir haben auf bilateraler Ebene diese Frage nie berührt, auch wenn die ungarische Minderheit in derNachbarschaft davon starkt betroffen ist. Davon abgesehen sind die Dekrete, die auch heute noch wirksam sind, diskriminierend und habe unserer Meinung nach in dem EU-Rechtssystem nichts verloren; das muß aber bilateral zwischen der EU und den Beitrittskandidaten geregelt werden, wir werden uns aus dieser Diskussion raushalten. Im übrigen hat auch Orbán diese Frage nicht von selbst aufgeworfen, sondern er hat nur auf eine Frage eines bayerischen Abgeordneten im Europaparlament geantwortet.

Sie gehören auch zu den Mitgliedern des EU-Konvents, der über die Zukunft der EU berät; wird "auf den Gängen" inoffiziell über die Vertreibungs-Dekrete gesprochen?

Szájer: Nein, der Konvent kümmert sich nur um die Zukunft der EU - Fragen der Erweiterung werden nicht diskutiert.

Wenden wir uns der ungarischen Innenpolitik zu. Keiner, auch nicht im Ausland, zweifelt an der Stabilität Ungarns und an seinem beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung; in der ausländischen Presse liest man trotzdem immer Warnungen über den "Populismus" und den "selbstherrlichen Regierungsstil" von Orbán - besonders der heftige Angriff des Kolumnisten Jackson Diehl in der US-Tageszeitung Washington Post vom 4. März ("New Nato, old Values") könnte dafür ein Beispiel sein. Wie erklären Sie sich diese "schlechte Presse"?

Szájer: Nun, heute schaltet sich im Wahlkampf - in Ungarn wird am 7. April gewählt - auch die ausländische Presse ein, besonders im Falle Österreichs konnte man das gut sehen. Die ungarische Opposition aus Sozialisten (MSZP) und Linksliberalen (SZDSZ) versucht ebenfalls, im Ausland Stimmung zu machen. Ich finde das nicht gut, denn dadurch wird der Ruf des Landes grundlos beschädigt. Zum Beispiel bemängelt man, daß das Parlament in Ungarn entmachtet worden sei, weil die Sitzungen nur alle drei Wochen stattfinden - das ist Blödsinn, denn in Deutschland tagt man auch nicht öfter und die Österreicher kommen sogar noch seltener zusammen, aber keiner würde auf die Idee kommen, daß deshalb eine Diktatur im Anmarsch ist. Ich glaube, diese publizistischen Angriffe aus dem Ausland werden nicht erfolgreich sein, denn die Wähler schätzen es nicht, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischt und versucht, sie darüber zu belehren, wen sie zu wählen haben. Österreich und Italien sind gute Beispiele für solche gescheiterten Kampagnen.

Die Wahlprognosen der Meinungsforschungsinstitute geben ein sehr uneinheitliches Bild: Nach Gallup wird Ihre Partei, Fidesz, gewinnen, für das andere Meinungsforschungsinstitut, Szonda-Ipsos, sind die Sozialisten die Favoriten; die rechte "Wahrheits- und Lebenspartei" (MIÉP) wird nach den Prognosen den Einzug ins Parlament klar verpassen und auch für die Liberalen könnte es knapp werden. Wie ernst kann man die Zahlen nehmen?

Szájer: Nach den Meinungsforschungsinsituten Gallup und Tárki führen wir eindeutig und auch Szonda-Ipsos mußte in den letzen Wochen zugeben, daß die Bürgerlichen stark aufgeholt haben. Zu beobachten ist auch eine besonders aggressive Kampagne der Sozialisten, was darauf hindeutet, daß sie nicht an ihren Sieg glauben. Was die anderen beiden Parteien angeht, so fällt eine Prognose schwer; Umfragen zeigen eine hohe Wahlbeteiligung und das ist gut für uns, nicht für die kleinen Parteien.

In der westlichen Presse liest man immer wieder Warnungen über eine mögliche Fidesz-MIÉP Koalition, obwohl die Rechten offenbar gar nicht die Fünf-Prozent-Hürde nehmen werden. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Szájer: Ja, das ist wirklich ein Widerspruch, aber davon abgesehen werden wir auf die Hilfe von MIÉP nicht angewiesen sein; wir bauschen diese Partei nicht auf, im Gegensatz zur Opposition, die nicht müde wird von einer "rechten Gefahr" zu warnen.

Wie schätzen Sie die Chancen der Kleinlandwirte Partei (FKgP) und der neu gegründeten Centrum-Partei ein?

Szájer: Die Kleinlandwirte haben keine Chancen mehr, nachdem sie sich zerstritten und gespalten haben; die Centrum-Partei bewegt sich um die drei, vier Prozent und demnach wird auch sie nicht den Sprung ins Parlament schaffen.

Es gibt in Ungarn eine offene Zusammenarbeit zwischen den Sozialisten und den Kommunisten (Munkáspárt); die Liberalen (SZDSZ) wiederum kooperieren mit den Sozialisten, obwohl sie 1988 als Anti-Kommunisten gegründet wurden - wie erklären Sie sich diese Wandlung?

Szájer: Das ist schwer zu sagen; leider sind auch die Sozialisten noch keine "Sozialdemokraten" geworden. Wir halten es für sehr gefährlich, daß die MSZP mit den Kommunisten kooperiert.

Noch eine Frage zur EU: Ungarn will planmäßig am 1. Januar 2004 Mitglied der EU werden. Ministerpräsident Orbán sagte aber kürzlich, es könnte sein, daß es zu einer Verzögerung kommt. Gibt es einen neuen Beitrittstermin?

Szájer: Offiziell wird am 1. Januar 2004 nicht gerüttelt, aber es könnte unter Umständen zu einer höchstens halbjährigen Verschiebung - bis zu den Europawahlen - kommen. Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, daß die neuen Mitglieder an den Europawahlen 2004 teilnehmen müssen, sonst wären die Beitrittsländer mit ihren Abgeordneten nicht repräsentiert.

Gesetzt den Fall, Fidesz gewinnt die Wahl, aber auch die MIÉP bekommt wider Erwarten zehn oder 15 Prozent der Wählerstimmen - könnte dann die EU-Aufnahme gefährdet sein?

Szájer: Das wäre nur dann denkbar, wenn die MIÉP Regierungsverantwortung übernehmen würde, denn die Meinung über diese Partei ist in Europa ziemlich schlecht.Wir haben schon früher bekräftigt, daß Fidesz mit der MIÉP keine Koalition eingehen wird - diese Aussage ist auch heute noch gültig! Aber wir sind uns, wie gesagt, ziemlich sicher, daß wir nach den Wahlen alleine regieren können. ALEXANDER BARTI

 

Dr. József Szájer, geboren am 7. September 1961 in Sopron (Ödenburg), studierte an der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Budapester Eötvös Lóránd Universität (ELTE). Nach seiner Promotion studierte er 1986 ein Jahr lang an der Universität Oxford (Balliol College) und hielt sich ab 1988 zu Forschungszwecken an der Universität von Michigan (USA) auf. 1988 war József Szájer Mitbegründer des "Bundes der Jungdemokaten" (Fidesz); seit 1990 ist er Mitglied des Ungarischen Parlaments und ab 1998 Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses zur Europäischen Integration. 1994 bis 1997 war er Fraktionsvorsitzender seiner Partei; 1998 wurde er erneut in diese Funktion gewählt. József Szájer ist verheiratet und Vater eines Kindes.

 

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