© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
Wächter des heiligen Feuers
Ausstellung I: Arnold Böcklin in der Münchner Neuen Pinakothek
Baal Müller

Es ist kein Zufall, daß gerade die Zeit, in der die industrielle Zivilisation mit ihrem technisch-instrumentellen Weltverhältnis und ihrem positivistischen Wissensbegriff zum Durchbruch gelangte, auch diejenige war, in der ein Bachofen, ein Burckhardt oder ein Nietzsche den kulturellen Fundamenten Europas nachspürten. War der damals herrschende, alles katalogisierende Historismus nur die Kehrseite des naturwissenschaftlichen Positivismus und vielleicht auch des "planetarischen" Imperialismus, so ging es den genannten Denkern nicht um die Anhäufung historischen Wissens, sondern um Ursprung und Wesen von Geschichte und Vorgeschichte.

Während aber Bachofen und der junge Nietzsche vornehmlich die Differenz von Geschichte und Mythos im Auge hatten, scheint das mythische Bewußtsein in der Kunst eines anderen großen Baslers noch ungebrochen: Verhältnismäßig wenige zentrale, immer wieder umgestaltete und weiterentwickelte Themen, immer dieselben Natur- und Vegetationsgottheiten - Faune, Tritonen, Nereiden und Zentauren - durchziehen das gewaltige Lebenswerk von Arnold Böcklin (1827-1901), in dem Stefan George den Meister einer neuen Klassizität erkannte, der "dem schmerz sein maass" gab und dem er in seinem Böcklin-Gedicht mit den Versen gedenkt: "Du nur verwehrtest dass uns (dank dir Wächter!) / In kalter zeit das heilige feuer losch."

Daß solches Feuer immer noch glimmt und aus dem Blau und Ocker südlicher Landschaften leuchtet, von den roten Gewändern dionysischer Tänzer strahlt, aus dunklem Waldesgrün dämmert oder in den schwarzen Fluten erlischt, aus denen sich die atemberaubend-beklemmende Toteninsel erhebt, wird der Besucher der großartigen, ursprünglich zu Böcklins hundertstem Todestag in Zusammenarbeit mit der Öffentlichen Kunstsammlung Basel und der Pariser Réunion des Musées Nationaux konzipierten Ausstellung Böcklin der Neuen Pinakothek in München bemerken. In einer repräsentativen Auswahl von mehr als achtzig Bildern werden nicht nur die bekanntesten Werke des Malers - darunter "Pan im Schilf"‚ "Spiel der Wellen", "Villa am Meer" und "Die Toteninsel" - gezeigt, sondern erstmals seit 1945 auch drei (von fünf) Versionen der berühmten "Toteninsel" zusammen präsentiert.

Die Retrospektive ermöglicht somit, die Entwicklung des ruhelos zwischen der Schweiz, seiner Wahlheimat Italien und Deutschland pendelnden Künstlers von der Spätromantik über den Symbolismus bis zur singulären Meisterschaft seines Alterswerks zu verfolgen; darüber hinaus erlaubt sie dem Betrachter, durch Einbeziehung von Freunden und Zeitgenossen Böcklins - wie etwa der "Deutschrömer" Hans von Marées, Adolph Hildebrand und Anselm Feuerbach - die originäre Leistung dieses wohl bedeutendsten Malers seiner Zeit von seinem künstlerischen und geistigen Umfeld abzuheben.

Während andere Maler des neunzehnten Jahrhunderts oft Gefahr liefen, sich in historistischer Staffage, hohlem Pomp und beliebiger Zitation mythologischer Stoffe zu verlieren und allenfalls das Lebensgefühl einer Generation veranschaulichen konnten, scheinen Böcklins Gemälde jene einfachere, größere und schönere Welt zum Ausdruck zu bringen, von der Goethe angesichts der im Mondschein liegenden Ewigen Stadt in seiner "Italienischen Reise" spricht. Durch neoklassizistische Idealisierung und symbolistisches Ästhetentum läßt sich die Faszination, die insbesondere von Böcklins Spätwerk ausgeht, nicht erklären, ebensowenig durch jenen reflexiven Abstand und den gebrochenen Bezug zur Antike, die für andere "moderne" romantische Künstler charakteristisch sind - obwohl Böcklin gelegentlich zu seinen Themen auch in eine ironische Distanz tritt, etwa wenn er einen Zentauren darstellt, der mit einem Dorfschmied vor neugierig blickendem Publikum über einen neuen Beschlag seiner Hufe verhandelt.

Läßt man solches außer acht, dann wirken Böcklins Elementargeister und Dämonen so, als ob in ihnen jeweils verschiedene Aspekte und Erfahrungsweisen der Natur zur Darstellung gelangen: Sein "Spiel der Wellen" von 1883 bringt im ausgelassenen Treiben von badenden weißen Nixen, schalkhaft-lüsternen bräunlichen Tritonen und olivfarbenen, fischgesichtigen Meeresungeheuern das Verlockende wie das Furchterregend-Bedrohliche des Meeres zur Erscheinung, eine Polarität, die sich auch im Gegensatz der weißen Schaumkämme der Wellen und der grundlosen schwarzen Tiefe offenbart.

Eine andere Polarität, diejenige von Nähe und Ferne, Sehnsucht und nie genügender Erfüllung, beherrscht das ein Jahr früher entstandene Gemälde "Odysseus und Kalypso": Odysseus ist nur in der Rückenansicht als bläuliche Silhouette vor dem fast weißen Hintergrund des wolkenverhangenen Himmels zu erkennen; er steht auf einem dunklen Felsen und schaut hinaus auf das für den Betrachter nicht sichtbare Meer. Kalypso hingegen, komplementär zum links oben über den Klippen ragenden Odysseus rechts unten vor einer schwarzen Höhle gelagert, zieht den Blick des Beschauers unmittelbar auf sich und in die Nähe, während der des Odysseus hinaus in die Ferne geht. Das strahlende Weiß ihres fast unbedeckten Körpers hebt sich scharf von dem finsteren Hintergrund des Höhleneinganges ab und bleibt ebenso polar auf die mit Bachofenschen Augen gesehene Höhle, gleichsam den Schoß der Erdmutter, bezogen wie auf die dunkle Gestalt des Mannes, nach dem sie sich umwendet, ohne ihn zu sich auf das leuchtend rote Tuch, auf dem sie sitzt, zurückholen zu können. Verrät dieses Bild eine gewisse Nähe zu Bachofens Matriarchatslehre, so scheint Böcklins "Altrömische Maifeier", wie Nietzsches "Geburt der Tragödie" 1872 entstanden, etwas von deren Duplizität des Apollinischen und Dionysischen zu enthalten. Robert Kozljanic hat in seinem Aufsatz über "Böcklins ‚daimonische' Naturbilder" in der "Hestia", dem Jahrbuch der Klages-Gesellschaft, auf diese Verwandtschaft hingewiesen: Dionysisch ist in Böcklins Gemälde der von einem rotgewandeten Satyr angeführte Tanz bacchantischer Frauen um eine phallische Säule, auf der eine Fortuna steht, in der Hand eine Kugel als Symbol des sich drehenden, unbeständigen Glücks.

Das Apollinische hingegen ist in den unbeweglichen, stillen, in die Ferne blickenden Figuren verkörpert, die, wiederum links oben, in blaue Mäntel gehüllt auf einer lichten Anhöhe stehen. Die Symbolik erinnert an "Odysseus und Kalypso", jedoch wird der Kontrast gemildert durch zwei Gestalten, die sich rechts, knapp unterhalb der Bildmitte in Höhe eines Tempels, auf einem zwischen Bäumen gelegenen Weg den Tanzenden nähern. Die eine dieser beiden Gestalten ist rot, die andere blau gekleidet; die rote hält die blaue umschlungen und geleitet sie von der apollinischen Höhe hinunter zum dionysischen Reigen. Das Bild erhält somit eine Dynamik, in der sich die beiden Prinzipien vereinen. Sehr im Gegensatz zu Nietzsches Sieg der apollinischen Illusion über den dionysischen Weltgrund in der klassischen Tragödie behält bei Arnold Böcklin jedoch Dionysos das letzte Wort: Der Weg führt hinunter zum bacchantischen Tanz oder, wo solcher nicht mehr gefeiert wird, wenigstens in die Neue Pinakothek. 

 

Die Ausstellung ist bis zum 26. Mai täglich außer dienstags von 10 bis 17 Uhr, Do. bis 22 Uhr geöffnet. Der Eintritt beträgt 7 Euro, der Katalog (376 Seiten, 306 Abb.) kostet 38 Euro


 
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