© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    14/02 29. März 2002

 
Impulse hinter dem Weltgeschehen
Rudolf Steiner beschäftigte sich intensiv mit der "Kriegsschuldfrage"
Alexander Barti

Wenn man heute den Namen Ru-
dolf Steiner (1861-1925) hört, wird man an Bio-Landwirtschaft, Waldorfschulen und allenfalls noch an asymmetrische Architektur denken. Immer mal wieder gerät der Philosoph mit seinen Aussagen über die "Wurzelrassen" in die Feuilletons der Zeitungen und auch die Tatsache, daß Rudolf Heß angeblich biologisch-dynamisch angebautes Gemüse bevorzugte, wird Steiner und seinen Jüngern nicht verziehen, dabei wurden sie im Dritten Reich verboten und verfolgt.

Daß Steiner sich auch intensiv mit der Tagespolitik seiner Zeit und Geschichte im weiteren Sinne auseinandergesetzt hat, dürfte auch den meisten seiner heutigen Anhänger unbekannt oder unangenehm sein. Aus einem gewissen Abstand betrachtet, verkörperte Steiner den Fortschrittsgläubigen des 19. Jahrhunderts, der den zutiefst materialistischen Aspekt dieser "Religion" der stetigen (Höher-) Entwicklung aus einem inneren Unbehagen heraus mit esoterischen Elementen transzendierte. Nachdem er sich mit der Pseudo-Mystik der Theosophen überworfen hatte, gründete er 1913 mit der "Anthroposophie" seinen eigenen, bis heute bestehenden Weltanschauungsverein mit Hauptsitz in Dornach (Schweiz). Ziel war es, die "Geistesimpulse" zu erkennen, die nach Meinung der Anthroposophen das Weltgeschehen bestimmen; denn nicht nur jeder Mensch hat ein "Karma", ein Schicksal, sondern die Menschheit als Ganzes ist auch einer Gesetzmäßigkeit unterworfen, die man "schauen" muß, will man das Rad vorwärts drehen.

Der 1999 verstorbene Theologe Werner Georg Haverbeck hatte es sich in seinem Werk zur Aufgabe gemacht, nicht nur im engeren Sinne Steiners Sicht auf den Verlauf des Ersten Weltkriegs und die "Kriegsschuldfrage" zu werfen, sondern die gegensätzlichen Entwicklungen bei den Völkern Europas lange vor dem 20. Jahrhundert zu erklären. Dabei meint er einen "Bruderkampf im christlichen Abendland" zu erkennen, bei dem sich der im Werden begriffene französische Nationalstaat immer weiter nach Osten schob. Aus diesem "Impuls" heraus, der gepaart war mit dem "Erwachen des Panslawismus" und der Furcht des britischen Imperiums, die Kontrolle über den Kontinent zu verlieren, seien Interessengruppen entstanden, die eine "Neuordnung Mitteleuropas" verfolgt hätten. Haverbeck zitiert bei seinen Ausführungen fleißig aus den Vortragsprotokollen, die von den Anhängern Steiners gefertigt wurden, und die in einer Gesamtausgabe vorliegen, so daß insgesamt ein lebendiger, lesefreundlicher Text entstanden ist. Da Steiner in der Schweiz während des Krieges auch Kontakt zu Staatsbürgern der "Feindmächte" hatte und das Tagesgeschehen in der (internationalen) Presse aufmerksam verfolgte, entsteht ein sehr dichtes Netz von Eindrücken und Kommentaren, die den Leser in die damalige Zeit zurückversetzen. Allerdings wird der historisch interessierte und informierte Mensch keine neuen Fakten finden; auch der Hinweis, die Freimaurerei habe maßgeblichen Anteil an der Zerstörung der mitteleuropäischen Monarchien gehabt, dürfte nicht überraschen. Zu einem Unikum wird das Werk durch seine esoterischen Aspekte, besonders im letzen Drittel des Buches, wo auf die Bedeutung der "Volksseele" ausführlich eingegangen wird. Positivisten werden die metaphysischen Erklärungsmuster bestenfalls belächeln, weniger verbaute Menschen dürften nach der Lektüre manche Anregung erfahren haben, und für die erklärten Gegner Rudolf Steiners hat Haverbeck mit seinem Buch neue Munition geliefert. Alexander Barti

Werner Georg Haverbeck: Rudolf Steiner. Anwalt für Deutschland. Verlag Zeitenwende, Dresden 2001, geb., 384 Seiten, 20,50 Euro


 
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