© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
"Unser Volk ist bedroht"
Jan Nuck, Vorsitzender der Domowina, über die Zukunft der Sorben zwischen drohendem Untergang und Selbstbehauptung
Moritz Schwarz

Herr Nuck, die Sorben in der Ober- und Niederlausitz gehören neben Friesen, Dänen und Zigeunern zu den vier nationalen Minderheiten Deutschlands. Die Sorben sind die Reste der bereits vor der deutschen Ostkolonisation seit dem 7. Jahrhundert im Elbraum ansässigen westslawischen Stämme. Die Domowina, die Dachorganisation der Sorben, kämpft heute für das kulturelle Überleben der sorbischen Volksgemeinschaft. Was ist heute noch an kultureller Existenz der Sorben präsent?

Nuck: Wir definieren uns als sorbisches Volk, wie es auch in den Verfassungen Sachsens und Brandenburgs steht. Das Rückgrat des sorbischen Volkes ist die sorbische Sprache. Wir Sorben hatten nie ein eigenes Königreich oder einen eigenen Staat, daher spielt die gemeinsame Sprache für unsere Identität eine um so größere Rolle. Doch immer weniger Sorben beherrschen heute ihre Muttersprache in Wort und Schrift. Das Sorbische war im Lauf der Zeit meist nicht gut angesehen, vereinzelt gab es sogar Sprachverbote, das letzte 1875 in Preußen. Dabei hat sich die sorbische Sprache seit der Reformation zu einer Hochsprache entwickelt, die schon einen kulturellen Wert an sich bedeutet. Ins Sorbische ist nicht nur die Bibel übersetzt worden, sondern auch Homer, Shakespeare, Goethe oder Dostojewski. Heute gibt es noch etwa 60.000 Sorben in der Lausitz, von denen aber nur noch etwa 20.000 Muttersprachler sind, darunter etwa 1.500 Kinder.

Wie wirkt sich diese Minderheiten-Position auf die Identität der Sorben aus?

Nuck: Trotz der eben genannten hochkulturellen Entwicklung, bis zu einer bürgerlich geprägten sorbischen Kultur und Kunst, blieben die meisten Sorben Bauern oder Lohnarbeiter - bis auf wenige Ausnahmen immer Diener einer deutschen Obrigkeit. Dazu kommen die Germanisierungspraktiken in Preußen und später im Nationalsozialismus. Auch im bürgerlichen Milieu oder im Kirchenleben wurde die sorbische Sprache einem hohen Assimilierungsdruck ausgesetzt, obwohl viele Deutsche - zum Beispiel Herder oder Lessing - schon früh den Reichtum des Sorbischen erkannt haben. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg mußte man sich immer wieder für seine sorbische Identität auf die Hinterbeine stellen, da haben viele von uns natürlich resigniert. Mancher hat heute noch ein unbewußtes Minderwertigkeitsgefühl, und ist nicht bereit, frei aufzutreten und sich selbstbewußt zu seinem Sorbentum zu bekennen. Dabei haben wir im demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland alle Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung, der freien politischen und kulturellen Betätigung. Wir haben Volksgruppenrechte, die wir uns zusammen mit Politikern aller demokratischen Parteien nach der Wende erstritten haben. Diese Rechte müssen wir weiter den europäischen Standards anpassen, aber auch selbst stärker im Leben der zweisprachigen Lausitz verankern.

Das sorbische Volk ist im Laufe der Geschichte durch eine ganze Reihe von Bedrängnissen immer weiter zurückgedrängt worden.

Nuck: "Sorben" ist eigentlich eine Bezeichnung für die Gesamtheit der im Elbgebiet einst siedelnden slawischen Stämme, von den Römern auch "Wenden" genannt. Dieses Siedlungsgebiet erstreckte sich zwischen Rügen, Schlesien und Thüringen. Nach der deutschen Kolonisation assimilierten sich die dortigen Slawen aber immer mehr, so daß heute nur noch in der Lausitz ein "geschlossenes" Siedlungsgebiet existiert. So haben wir, die Nachfahren der in der Lausitz siedelnden Stämme, nämlich der Milzener und der Lusizer, die Gesamtbezeichnung "Sorben" für uns übernommen. Natürlich geriet unser Volk mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stark unter Druck, traditionelle Strukturen lösten sich auf. Der Ansiedlung von Industrie in der Lausitz folgten Arbeiter, die nicht sorbisch sprachen. 150 unserer Dörfern verschwanden mit dem Braunkohleabbau. Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus haben wir viele Flüchtlinge aus dem Osten des Reiches bei uns aufgenommen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR hat zudem historisch gewachsene Siedlungs- und Lebensräume zerstört.

Welchen Charakter hatte die sorbische Nationalbewegung, die sich im allgemeinen Völkererwachen Europas im 19. Jahrhundert regte?

Nuck: Zu Beginn ging es darum, sich überhaupt zu organisieren, die Kultur und Sprache zu pflegen und das junge sorbische Bewußtsein - ein nationales Bewußtsein - zu entwickeln und zu stärken. Natürlich formulierte man bald darauf auch kulturpolitsche Forderungen, wie etwa die nach sorbischem Sprachunterricht an den Schulen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Ruf nach Unabhängigkeit oder einem Anschluß an die Tschechei laut. Der Führer dieser Bewegung wurde dafür zu drei Jahren Festungshaft verurteilt. Und nach dem Zweiten Weltkrieg gab es noch einmal solch eine Bewegung, die von den bitteren Erfahrungen im deutschen Nationalsozialismus ausging und einen neuen und demokratischen Weg für die Zukunft unseres Volkes suchte.

Also waren die Sorben unsichere Kantonisten.

Nuck: Ursprünglich waren die Sorben sogar sehr königstreu. Besuchte der König aus Dresden einmal seine Untertanen in Bautzen, war der Jubel der Sorben auf den Straßen groß, und König Albert lernte sogar ein wenig Sorbisch. Bis Ende des Ersten Weltkrieges war man treu zum Reich, danach geriet in Deutschland alles in Unordnung. Bitte bedenken Sie, daß es auch im Rheinland oder in Bayern Abspaltungstendenzen gab.

Der sorbische Nationalismus hat sich nie ideell in die deutsche Reichsidee eingefügt - auch wenn man die politischen Verhältnisse akzeptierte -, sondern hat sich als slawischer Fels in der deutschen Brandung verstanden.

Nuck: Es stimmt, man hat kulturell keinen Anschluß an die deutschen Strukturen gesucht, sondern eigene Wege beschritten.

Welches Selbstverständnis haben die nationalbewußten Sorben heute?

Nuck: Die nationalbewußten Sorben sind natürlich Realisten und wissen, daß sie sich einrichten müssen. Es war meist nicht einfach, unseren deutschen Nachbarn klarzumachen, daß die sorbische Kultur eine Bereicherung für diese Region ist. Die alltäglichen Sticheleien, etwa am Arbeitsplatz, die von den Deutschen vielleicht nicht einmal böse gemeint waren, haben bei manch einem Sorben Wunden aufgerissen. Ich selbst habe früher Fußball gespielt, und wenn wir in einem deutschsprachigen Gebiet gespielt haben, war es die Regel, daß wir uns einiges anhören mußten. So mancher hat sich da gesagt, um dem zu entgehen, spricht er lieber kein Sorbisch mehr.

Sie sprechen von der Alltagssituation in der DDR, obwohl die SED die Sorben offiziell als "Vorzeigeminderheit" unterstüzte. Hat sich die Alltagssituation seit der Wende geändert?

Nuck: Wie gesagt, haben wir uns mit der Wende neue Rechte erstritten, zusammen mit Politikern in der deutsch-sorbischen Lausitz. Heute ist das deutsch-sorbische Verhältnis gut, die Stichelein der Vergangenheit haben keine bleibende Voreingenommenheit gegenüber den Deutschen geschaffen. Es gibt kein gespaltenes Verhältnis. Natürlich fühlen wir eine große sprachliche und kulturelle Verbundenheit zu den Tschechen und Polen. Wir sind allerdings genauso verbunden mit der Kultur und Sprache des deutschen Volkes, die im Geist der deutschen Aufklärung sowie im Humanismus verankert sind und die sprachliche und kulturelle Vielfalt als einen Gewinn anerkennen. Leider ist in der deutschen Gegenwart diese Tradition aber nicht immer und überall zu spüren.

Als unlängst ein Streit mit den sächsischen Behörden um die sorbische Schule in Crostwitz entbrannte, appellierte ein Prager Parlamentsabgeordneter an die tschechische Regierung, zu intervenieren. Betrachten die Sorben die Tschechische Republik als ihre Schutzmacht?

Nuck: "Schutzmacht" ist übertrieben, allerdings betrachten wir die Tschechische Republik als ein Land, das unseren politischen Anliegen zustimmend gegenübersteht.

Hat die Domowina Kontakte zu tschechischen Parteien?

Nuck: Wir haben Kontakte zu mehreren Parteien in unserem Nachbarland, vor allem zu den Sozialdemokraten, die dort die Regierung bilden. Während die politischen Kontakte noch sehr jung sind, gibt es schon seit eh und je kulturelle Kontakte in die Tschechei - zwischen Vereinen, Chören, Schulen und verschiedenen Initiativen hier und dort. So gibt es dort etwa Gruppierungen wie "Die Freunde des sorbischen Volkes".

Welche Verbindungen gibt es zur deutschen Politik?

Nuck: In Sachsen haben wir zwei sorbische Landtagsabgeordnete, einen von der CDU und einen von der PDS sowie einen sorbischen Minister - Stanislav Tillich, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten. Im ersten gesamtdeutschen Bundestag hatten wir mit Frau Maria Michalk (CDU) und Angela Stachowa (PDS) auch zwei sorbische Abgeordnete in Bonn. Da Frau Michalk für die kommende Bundestagswahl auf einem der vorderen Plätze der sächsischen Landesliste steht, gehen wir davon aus, daß wir ab Herbst wieder eine "ursorbische Stimme" in Berlin haben werden.

Haben die Sorben daran gedacht, eine eigene Partei zu gründen?

Nuck: Ja, aber dafür sind wir noch zu schwach.

Seit der Wende sind die Sorben aber auch mit neuen Problemen konfrontiert.

Nuck: In der DDR bedrohte uns die Assimilation, und diese Gefahr besteht leider heute noch. Zusätzlich bedroht uns nun aber die neue Mobilität, die im Westen vorherrscht: Die Jungen wollen die Welt sehen und wandern deshalb ab. Dazu kommt, daß viele hier keine Perspektive für sich sehen, wir haben über 20 Prozent Arbeitslosigkeit in der Lausitz. Man kann wirklich sagen: Die Lausitz blutet aus. Und zu allem Überfluß kommt es leider auch noch zu dem in westlichen Gesellschaften allgemein üblichen, für uns bedrohlichen Geburtenrückgang.

Der Schulstreit von Crostwitz offenbarte unlängst, daß sich die Sorben angesichts dieser Situation von der deutschen Politik nicht genug unterstützt fühlen.

Nuck: Ich glaube schon, daß die meisten deutschen Politiker uns gegenüber gutwillig sind - wir haben das etwa bei der Entscheidung über die finanzielle Absicherung der Stiftung für das sorbische Volk feststellen können. Da haben uns im Bund viele Parlamentarier der rot-grünen Koalition unterstützt, herausragend der aus Mannheim kommende Bundestagsabgeordnete Lothar Mark und die Hoyerswerderin Barbara Wittig. Auch in Brandenburg und Sachsen gibt es viele deutsche Politiker, die sich sehr auf Parlaments- und Regierungsebene für uns einsetzen. Leider mangelt es aber manchen Politikern am richtigen Verständnis für unsere Lage. So ist vielen nicht klar, daß die bedrohliche wirtschaftliche Lage der Lausitz nicht nur ein ökonomisches Problem ist, sondern darüber hinaus unser Volk insgesamt bedroht. Natürlich ist es aus ökonomischer Sicht für die Behörden des Freistaates Sachsen schwer verständlich, daß wir die Schule in Crostwitz erhalten wollen, obwohl wir nicht mehr die behördlich vorgeschriebene Zahl von Schülern aufbringen können. Sicherlich ist es günstiger, Schulen zusammenzulegen, nur leider gibt nicht mehr viele sorbische Schulen, da zählt jede einzelne. Deshalb konnten wir die Schließung nicht hinnehmen, und fühlen uns von bestimmten Bildungspolitikern der CDU in Sachsen - vornehmlich vom Staatsminister Matthias Rößler - nicht ausreichend verstanden. Wir genießen eine vordergründige Toleranz, vermissen aber ein hintergründiges Verständnis, das echten Rückhalt ermöglichen würde.

Haben Sie den Eindruck, so mancher Politiker nutzt mit seiner demonstrativen Offenheit, bei tatsächlichem Desinteresse gegenüber den Sorgen der Sorben, nur die Gelegenheit, sich als tolerant und weltoffen darzustellen?

Nuck: Das ist bei einigen zweifellos der Fall. Aber es sind nicht alle Politiker gleich.

Die Domowina hat seit der Wende aber auch Erfolge erzielt.

Nuck: Es gibt viele Entwicklungen, die Mut machen. Die Freiheit unter demokratischen Verhältnissen hat neue Chancen eröffnet. So konnten wir nicht nur die Kontakte zu unseren slawischen Nachbarn vertiefen und neue knüpfen, sondern auch andere Minderheiten in Europa besuchen. Wir waren bei den Bretonen, Walisern, Lappen, Südtiroler Deutschen etc. und konnten von ihren Erfahrungen profitieren. Zwar haben wir Sorben im Laufe der Zeit den sorbischen Sprachunterricht an den Schulen durchsetzen können, aber das erzieht noch niemanden zu einem Muttersprachler - die allerdings zum Erhalt einer Sprache notwendig sind. Bei den Bretonen haben wir nun die Immersion kennengelernt. Bei dieser Methode werden die Kinder in einem rein sorbischen Kindergarten betreut, dort wird kein Deutsch gesprochen, denn das lernen die Kinder automatisch in ihrer alltäglichen Umgebung. So lernen die Kinder zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr spielend, also ohne zu pauken, die sorbische Sprache. 150 Kinder beteiligen sich derzeit an diesem Programm.

Sind die Kinder stolz darauf, Sorben zu sein?

Nuck: Im Vergleich mit der Lage damals in der DDR bessert sich die Situation zunehmend.

Die deutschen Politiker kümmern sich mehr um die Probleme der Einwanderer, als um die der angestammten Minderheiten. Kritisieren Sie das?

Nuck: Da es mehr Ausländer als Sorben in Deutschland gibt, ist das wohl nachvollziehbar, aber es stimmt einen schon nachdenklich.

Fürchten Sie angesichts der Einwanderungsströme, die Deutschland in Zukunft erleben wird, um die sorbische Identität?

Nuck: Im Moment sind die bereits genannten Probleme noch drängender für uns, doch kann die Einwanderung in der Tat auch einmal zu einem ernsten Probelm für uns Sorben werden. Allerdings kommen die Einwanderer wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation wohl nicht zu uns in die Lausitz.

Andererseits gibt es in Ihrer Region auch Skinheads. Haben Sie Probleme mit Rechtsradikalen vor Ort?

Nuck: Kaum, hier und da gibt es mal einen bösen Brief oder ein übermaltes sorbisches Ortsschild, aber in kaum zu erwähnendem Umfang. Für uns ist das größere Problem das mangelnde Verständnis in der deutschen Politik und Öffentlichkeit für nationale Identität, für kulturelle und sprachliche Verwurzelung.

 

Jan Nuck: Vorsitzender der Domowina, des Dachverbandes der sorbischen Vereine. Geboren 1947 in Bautzen. Nach einer Ausbildung zum Elektromonteur studierte er Energetik an der Ingenieur-hochschule Zittau. Heute ist er Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens. 1962 trat er der Domowina bei, für die er von 1990 bis 1994 im Kreistag von Bautzen saß. Seit 2000 ist er ihr Vorsitzender.

"Domowina": Die 1912 gegründete Dachorganisation (dt.: "Heimat") des slawischen Volksstammes der Sorben vereinigt die zahlreichen Vereine, die sich dem Erhalt der sorbischen Kultur widmen und vertritt die Interessen der Sorben nach außen. Kontakt: Postplatz 2, 02625 Bautzen, www.sorben-wenden.de 

 

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