© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/02 05. April 2002

 
Der kranke Mann am Main
In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" toben heftige redaktionelle Auseinandersetzungen
Andreas Wild

Wenn die Institutionen zu wackeln anfangen, muß man sich nach Balancierstangen umsehen. Auf ziemlich dramatische und für sie höchst abträgliche Weise ist jetzt eine wichtige mediale Institution ins Wackeln gekommen: die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), bisher Säule des solid bürgerlichen, nicht linken Qualitäts-Journalismus in Deutschland. Fast täglich erscheinen in Konkurrenzzeitungen ausführliche, oft schadenfrohe Berichte über die FAZ, man beugt sich über sie mit der Miene eines besorgten Notarztes und Diagnostikers, erteilt Ratschläge, jemand prägte das Bild vom "kranken Mann in der Mainebene".

Anlaß fürs Getuschel sind dabei nicht nur die betrüblichen Geschäftsbilanzen, die auf den Schreibtischen der Frankfurter liegen, denn anderswo sehen die Bilanzen nicht weniger betrüblich aus. Die Krise hat die Medienbranche voll erfaßt, sorgt für Anzeigenrückgänge, Auflageneinbußen, explodierende Personalkosten. Was bei der FAZ hinzukommt, ist ein "Strukturproblem", das durch die Krise voll ans Licht gespült wird.

Die Zeitung paßt (zumindest angeblich, also nach Auskunft ihrer Konkurrenten) habituell nicht mehr in die moderne Zeit, ist reif für die Insel. Ihre redaktionelle Organisation, ihr Erscheinungsbild, ihre Strategie zum Erwerb von Anzeigen - all das, so heißt es, sei total überholt, kontraproduktiv, vormodern. Die FAZ werde vom Publikum "nicht mehr angenommen".

Manche FAZ-Leute scheinen diese Einschätzung zu teilen. Im Mittelpunkt des kritischen Interesses steht die Person des Mitherausgebers und Feuilletonchefs Frank Schirrmacher (42), der nach außen hin schon seit längerem die dominierende Repräsentationsfigur des Blattes abgibt und der eine unruhige, von Augenblicks-Einfällen und Visionen bestimmte, auf Knalleffekte abgestellte Hauspolitik und Öffentlichkeitsarbeit betreibt, wie sie an sich ganz unfazig sind.

Das Feuilleton wurde unter Schirrmachers Ägide nicht nur quantitativ spektakulär ausgeweitet, sondern es wurde zu einer Art Zeitung in der Zeitung, streckenweise sogar zu einer Gegenzeitung. Strikt politische Themen, die eigentlich nichts oder nur sehr wenig mit Literatur, Kunst oder Wissenschaft zu tun haben, werden seit Schirrmachers Amtsantritt 1994 faktisch doppelt behandelt, einmal vorn auf den genuin für die Politik vorgesehenen Seiten und ein zweites Mal hinten im Feuilleton, wobei sich gravierende Meinungs- und Darstellungsdifferenzen ergeben. Den gemäßigt konservativen Ansichten vorn wird in der Regel ein dezidiert linker Standpunkt hinten entgegengestellt, was sich oft sogar bis in die (doppelt gebotenen) Nachrufe und Geburtstagsartikel hinein fortsetzt.

Alle sich daraus ergebenden innerredaktionellen Spannungen steigerten sich in den letzten Wochen zur Klimax, als Schirrmacher verkündete, er werde die gesamte Feuilletonredaktion inklusive Medienseite, Wissenschaft, Literatur- und Reiseteil (also fast die Hälfte der gesamten FAZ-Redaktion) nach Berlin verlegen und selber nach Berlin umziehen, weil "dort in der Hauptstadt" nun einmal die kulturell-politische Musik spiele. Der Entschluß wurde öffentlich verkündet - und nach wenigen Tagen ebenso öffentlich wieder zurückgenommen. Der Eklat war da, die Spaltung von Redaktion, Herausgeberschaft und Geschäftsleitung lag offen vor aller Augen.

Schirrmachers Widersacher, redaktionell gruppiert um die Mitherausgeber Günther Nonnenmacher (53) und Berthold Kohler (40), argumentieren, daß ein Umzug oder auch nur Teilumzug nach Berlin "an die Substanz und an die Idee" der FAZ rühren würde, da diese nun einmal sowohl von der Tradition als auch vom Leserschwerpunkt her eine typisch Frankfurter Institution sei. Schon die ruhmreiche alte Frankfurter Zeitung der zwanziger und dreißiger Jahre, als deren Erbe sich die FAZ fühlt, sei ein durchaus ebenbürtiger Gegenpol gegen die damalige Berliner Qualitätspresse gewesen, und es gebe nicht den geringsten Grund, diese Position heute preiszugeben.

Tatsächlich hat sich die Stellung Berlins im Vergleich zu den zwanziger und dreißiger Jahren sogar verschlechtert, auch und gerade bei den Medien. Damals saßen in Berlin nicht nur die Zentralen sämtlicher großer Industrie- und Finanzunternehmen Deutschlands, sondern die Stadt war auch (nach Leipzig) der größte Standort für Buchverlage, und die besten Theater und die einflußreichsten Kunstgalerien blühten dort. Das alte Berlin verzeichnete einen ständigen Zuzug kreativer Kräfte aus allen Winkeln des Reiches - das neue Berlin hat seit der Wende Hunderttausende von Einwohnern verloren, darunter gerade die kreativsten.

Die meisten Verlage sitzen heute in München, die besten Theater und Opernhäuser in München, Stuttgart oder Dresden. Das Kunstgalerie-Zentrum Köln-Düsseldorf, das Paris überflügelt hat und New York Konkurrenz macht, kann von Berlin in Generationen nicht eingeholt werden, die neue "Medienstadt" in Köln hat fast doppelt so viele Produzenten und Investoren angezogen wie die Stadt an der Spree. Was sich zur Zeit in Berlin breitmacht, ist (hoffentlich nur vorläufig) zum großen Teil zweitklassig, es sind Schickimickis, Adabeis, "Medienluder".

Man kann diese Situation bedauern, sollte es sogar, und man darf auf Abhilfe sinnen. Aber zu behaupten, in Berlin spiele die Musik und man müsse deshalb als große Qualitätszeitung dorthin umziehen, ist leichtfertig, um das mindeste zu sagen, es brüskiert die angestammte Leserschaft, ohne eine Garantie auf neue Leserschichten zu bieten. Schon spricht man von überdurchschnittlich vielen FAZ-Abbestellungen im Frankfurter Raum, der sich jetzt durch die "eigene" Zeitung brüskiert sieht.

Ähnlich steht es mit dem von der Konkurrenz listig monierten "altmodischen" Layout der FAZ, ihrem mit Fraktur übertitelten Leitartikel, ihrer Weigerung, die "Rechtschreibreform" mitzumachen, ihrem sparsamen Umgang mit Bildern, ihrer Reserve gegenüber der bunten Einfärbung des Blattes. Das alles, sagen die Kritiker, stoße junge Leute ab und verhindere eine positive Auflagenentwicklung. Wahrscheinlich ist es aber gerade umgekehrt. Die Verwandlung des Frankfurter publizistischen Urgesteins in zeitgeistlichen Treibsand dürfte das Blatt à la longue in die größten Schwierigkeiten bringen, dürfte ihm den Charme der Tradition rauben und es im Konzert der Medien ununterscheidbar machen.

Man darf nun gespannt sein, wer sich in Frankfurt durchsetzen wird, Schirrmacher oder Nonnenmacher. Große Ruderausschläge, auch Frontverkürzungen, stehen auf jeden Fall bevor: rigorose Einsparungen, wie überall in der Branche, Umgruppierungen bzw. Neubesetzungen des Herausgebergremiums, Mitarbeiteraustausch, Kurskorrekturen. Ob am Ende erfolgreiche Behauptung der eigenen Identität steht oder ein neues Stück Wackel-Journalismus zu stark herabgesetzten Preisen und ohne ordentliche Balancierstange, wird Auswirkungen auf die deutsche Medienlandschaft insgesamt haben.


 
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