© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002

 
Besetzung als Dauerzustand
Naher Osten I: Die Armee Israels kann nur verlieren - nicht militärisch, aber moralisch
Carl Gustaf Ströhm

Angesichts der israelischen Militäraktion gegen die Palästinenser kommt fleißigen Kinogängern vielleicht ein Film mit dem unvergeßlichen Komiker Louis de Funès in den Sinn. Der französische Streifen trug den Titel "Die Kohlsuppe" ("La soupe aux chou") und schilderte, wie die Betreiber eines Freizeit- und Vergnügungsparks eine bis dahin unberührte französische Landschaft aufkaufen und in eine Art Disneyland verwandeln. Nur zwei Bauern weigern sich, ihr Land zu verkaufen. Darauf werden um ihre Häuser und Äcker hohe Maschendrahtzäune errichtet. Die Besucher des Vergnügungsparks betrachten durch den Drahtzaun, wie die Bauern ihr einfaches Leben weiterleben: pflügen, melken, mähen. Jene, die sich dem großen Projekt widersetzen wollten, wurden selber - wider Willen - zu einem Teil der modernen Vergnügungsindustrie.

Die Frage stellt sich, ob das rationale Ziel der Regierung Ariel Scharon - das es hinter aller Irrationalität der jüngsten Ereignisse irgendwo geben muß - nicht darin besteht, das Palästinenserproblem auf ähnliche Weise zu lösen. Ist erst einmal das Westjordanland samt dem Gaza-Streifen total durchkämmt, sind Tausende von Palästinensern verhaftet und mit Filzschreibern an den Oberarmen mit Nummern markiert, ist Jassir Arafat gedemütigt und in seiner Ohnmacht der Welt "vorgeführt", ist schließlich die vielzitierte Infrastruktur des Terrors (zumindest für den Augenblick) zerschlagen - dann könnte sich die israelische Armee zurückziehen. Dann könnte im Westjordanland eine Art Indianerreservat im Sinne von Louis de Funès entstehen, in dem die gezähmten Palästinenser der Gewalt abgeschworen haben und zur Besichtigung freigegeben sind. Sie würden durch EU-Gelder am Leben erhalten und dürften folkloristische Souvenirs an Touristen verkaufen - etwa die bei manchen westlichen Jugendlichen populären Arafat-Kopftücher.

Wenn die Panzer rollen, kann keiner mehr aussteigen

Allerdings gibt es noch einige Unwägbarkeiten. Noch ist keineswegs sicher, ob die Militäraktion Scharons wirklich die erwünschten Resultate bringen wird: nämlich die Besiegelung palästinensischer Ohnmacht und arabischer Uneinigkeit. Nachdenkliche Beobachter, darunter auch einige Israelis und amerikanische Juden, warnen vor konträren Entwicklungen. So schrieb der bekannte Kolumnist William Pfaff in der Los Angeles Times: "Israel beteuert, daß sein Krieg ein Krieg gegen den Terrorismus ist, aber Scharons Krieg ist in Wirklichkeit ein Krieg zur Zerstörung des palästinensischen Widerstandes gegen die israelischen Politik in den besetzten Gebieten und zur Verweigerung des palästinensischen Anspruchs auf Rückkehr der Flüchtlinge in die Heimstätten, aus denen sie geflohen sind oder vertrieben wurden ...".

In der New York Times meldete sich der gleichfalls viel gelesene Kommentator Thomas L. Friedman zu Wort. Unter der Überschrift "Die harte Wahrheit" postulierte er, Ziel müsse der Rückzug aus den 1967 eroberten Gebieten sein - andernfalls werde Israel "niemals auch nur einen einzigen Tag des Friedens erleben und statt dessen alle legitimen amerikanischen Bemühungen zur weiteren Bekämpfung des Terrorismus unterminieren."

Jeder Krieg läuft nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ab. Für die israelische Armee, die sich etwa im Sechs-Tage-Krieg 1967 weltweit legendären Ruhm erwarb, können die Szenen, in denen schwere Panzer Wohnsiedlungen und Flüchtlingslager niederwalzen und der US-Fernsehsender CNN von israelischen Kugeln getroffene, blutende palästinensische Kinder zeigt, nicht ohne schwerwiegende psychologische Folgen bleiben. Keine Armee der Welt hält es auf Dauer moralisch aus, gegen Frauen und Kinder losgeschickt zu werden - selbst wenn es sich um "feindliche" Kinder handelt. Das zeigte sich bereits an der offenkundigen Verlegenheit des sehr gut Deutsch sprechenden Presseoffiziers der israelischen Armee beim Auftritt vor westlichen Fernsehkameras.

Wieder einmal wird offenbar, daß eine Armee, die den Angriffsbefehl erhält, ihrer eigenen Dynamik folgt. Da gibt es keinen Raum und keine Zeit für Distanzierung oder Widerstand. Wenn die Panzer rollen, kann keiner mehr aussteigen, auch wenn er vielleicht nicht so begeistert ist. Auch die israelischen Soldaten rechtfertigen sich mit dem Begriff "Pflichterfüllung" und der Parole: "Wo gehobelt wird, da fallen Späne". Militärische Fachleute sind allerdings der Meinung, diese Armee werde niemals wieder sein, was sie in ihrer großen heroischen Zeit einmal war.

Aber auch die Palästinenser verändern sich und sind - etwa im Vergleich zur Haltung ihrer Vorfahren vor 50 Jahren - nicht mehr zu erkennen. Noch während der Staatsgründung Israels, die ja von jüdischer Seite durchaus von Aktionen begleitet wurde, die man als terroristisch bezeichnen könnte (damals hauptsächlich gegen die britische Besatzungsmacht gerichtet), ergriffen viele Palästinenser die Flucht. Sie überließen das Land freiwillig oder gezwungen den neuen Herren. Die Nachkommen der damaligen Bewohner "Palästinas" leben heute zusammengepfercht in Flüchtlingslagern ohne jede Zukunftsperspektive. Hier wächst das Potential der Unzufriedenheit und Verzweiflung heran.

Zugleich aber gibt es eine andere palästinensische Schicht: das sind hervorragend ausgebildete, Akademiker, Unternehmer, Ärzte und Techniker, die sich in der arabischen Welt, etwa in den Golf-Emiraten, in Schlüsselpositionen befinden. Trotz ihrer "Modernisierung" haben diese Palästinenser ihre Gläubigkeit nicht verloren. Aus diesem palästinensischen Amalgam von Tüchtigkeit, Glauben und Verzweiflung ist das schreckliche Phänomen der Selbstmordattentäter zu erklären. Wer so etwas tut, mag verblendet sein - aber sicher ist er nicht primitiv oder gar "feige". Wenn aus einem relativ kleinen Volk plötzlich Dutzende oder Hunderte von jungen Leuten bereit sind, ihr eigenes Leben zu opfern, dann mag man vor solch blutiger Konsequenz erschaudern, aber man wird das kaum als Wahnsinnstat einzelner abtun können. Hier bleibt die Frage: Was treibt junge Leute dazu, in Massen solche Verbrechen an anderen - aber auch am eigenen Leben zu begehen?

Ein Vermittler darf seine Sympathien nicht zeigen

Leider ist manches, was man in dieser Situation von höchster amerikanischer Seite zu hören bekommt, nicht geeignet, besondere Zuversicht einzuflößen. Wenn die Regierung Bush bei ihren Vermittlungsbemühungen Erfolg haben will, muß sie einigermaßen gleichen Abstand zu den Streitparteien wahren. Das genau tut sie aber nicht. US-Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice forderte zwar jüngst die Israelis zum Rückzug auf, sagte aber dann, im Grunde hätten diese Recht. Ein Vermittler mag seine Sympathien haben, aber er darf sie nicht zeigen. Sonst könnte die "Friedensmission" mit einem Fiasko enden.

Das Schreckliche ist - hier kann man den zitierten US-Kommentatoren nur beipflichten -, daß Scharons Militäraktion genau das heraufbeschwören könnte, was niemand wünscht: daß sich die Palästinenserfrage in einen Sprengsatz verwandelt, der zwar lokal von der Armee Israels noch entschärft werden kann, der aber bei nächster Gelegenheit anderswo explodiert: sei es in den wackligen prowestlichen Araberstaaten oder gar in Westeuropa. Dann ließe sich am Ende nur noch sagen: "Operation gelungen - Patient tot."


 
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