© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/02 12. April 2002


Gerichtsshows: Neue Konzepte kombinieren Seifenopern und niveaulose Gesprächsrunden
Kirmes im Gerichtssaal
Wolfgang Scheidt

D ie Anzeige "Gesucht: Anwälte, kameratauglich und plakativ", liest man im Tagesspiegel. Nicht im Stellenmarkt, sondern mitten im Berlin-Teil einer Tageszeitung buhlt die ZDF-Gerichtsshow "Streit um Drei" per angegebener Telefonnummer nach telegenen Juristen mit Charisma. Denn kamerasichere Richter und Anwälte sind rar und das Gerichtsfernsehen feiert Höhenflüge. Nach Daily Talks, Reality-TV und Quizshows tagt nun das Fernsehgericht - bis zum jüngsten Tag. Weil "Richterin Barbara Salesch" regelmäßig Marktanteile über 30 Prozent in der werberelevanten Zielgruppe erreicht, setzt Sat.1 ungeniert auf Gerichtsshows. "Zwei bei Kallwass" und "Richter Alexander Hold" flankieren Justitia-Queen Barbara Salesch, haben dem Sender zur Marktführerschaft in der Zeit zwischen 14 und 17 Uhr verholfen. Doch die Konkurrenz schläft nicht: Bei RTL tagt werktags ab 16 Uhr "Das Jugendgericht" mit Ruth Herz, das ZDF bietet eine Stunde früher einen "Streit um Drei". Nur ProSieben setzt immer noch auf Daily Talker statt auf TV-Richter. "Im Moment sind Gerichtsshows das attraktivste Programmumfeld, das es am Nachmittag gibt", weiß Nicolas Paalzow, Geschäftsführer bei ProSieben. Schon jetzt sieht mancher Fernsehzuschauer vor lauter Richterroben schwarz.

Da Kameras und Kassettenrecorder in deutschen Gerichtssälen tabu sind, übernehmen fürs Fernsehen Schauspieler den Part von Zeugen, Angeklagten und Streithähnen. Der oft allzu menschliche Streit ist Programm, wenn Betrogene, gerade Getrennte oder frisch Geprellte auf Kommando der Dramaturgen loslegen. Drehbücher gibt es keine, statt dessen sollen die Schauspieler improvisieren, was der jeweilige Fall hergibt. In zwanzig Minuten werden Vergewaltigung, Notwehr und Totschlag verhandelt, inklusive Vernehmung, Zeugenaussage, Plädoyer und Urteilsverkündung. Bis zum Werbeblock ist der ganze Gerichtsspuk wieder vorbei, dann kommt der nächste Fall.

Echt sind nur die Richter, Staatsanwälte und Verteidiger: Barbara Salesch, Alexander Hold und Ruth Herz ließen sich vom regulären Gerichtsbetrieb beurlauben, um hammerschwingend ihre Urteilssprüche via Mattscheibe fällen zu dürfen. "Ich arbeite jetzt mehr als bei der Justiz", stöhnt Sat.1-Richter Alexander Hold. Der Arme! Typische Fernsehfälle sind "Rache eines Freiers", "Gefährliche Doktorspiele" und "Gummipuppe abgesahnt" - Sex und Crime funktionieren auch im Laiengericht, befriedigen Liebe und Triebe der meist weiblichen Zuschauer zwischen 30 und 49 Jahren.

"Der Erfolg einer Gerichtsshow beruht im wesentlichen auf der hohen Emotionalität, der Erläuterung der Gerichtsbarkeit und dem menschlichen Blick über den Nachbarschaftszaun", glaubt Sat.1-Sprecher Dieter Zurstraßen. "Das Spannende ist, daß der Zuschauer wie beim TV-Quiz mitraten kann, wer den Prozeß gewinnt und wer verliert." "Wer wird Millionär?" für Hobby-Anwälte? Spätestens seit dem Bagatell-Zwist um Regina Zindlers Maschendrahtzaun weiß Zurstraßen, "daß es spannender und relevanter für die Zuschauer ist, wenn es nicht um geklaute Kopfkissen in Hotels geht, sondern um strafrechtliche Delikte wie einen Mord - Mörder und Betroffene begegnen sich im Gerichtssaal."

"Fast immer interessant sind Straftaten, bei denen Beziehungen zwischen Menschen eine Rolle spielen: Liebe, Haß, Eifersucht, Neid oder Habgier - wie im klassischen Drama", erklärt Barbara Salesch. Bedenken, ein theatralisches, weil verzerrtes Bild von der Justizarbeit zu vermitteln, hat sie keine: "Immerhin haben wir echte Volljuristen als Verteidiger und Staatsanwälte, echte Sachverständige - und eine echte Richterin." So wie Alexander Hold, der sich bis zu seiner TV-Karriere mit Eifersuchtsdramen, Erbfällen und Exhibitionisten herumschlagen mußte. "Die Leute erwarten vor allem spannende Unterhaltung", weiß Hold. "Und wir geben ihnen ein Stück aus dem richtigen Leben - fürs richtige Leben." Natürlich setzen Hold, Salesch, Herz & Co. auf massenattraktive Fälle statt auf juristische Kleinigkeiten - wer will schon Ladendiebe, Betrunkene und Minidealer sehen. Beim unrealistischen TV-Gericht geht es weniger um Aufklärung und Rechtsfindung, sondern ums Eingemachte - um Effekt und Quote. "Wir lassen Emotionen zu", lautet Holds Plädoyer in eigener Sache, "das ist der Hauptunterschied zwischen der richtigen und der Fernsehjustiz." Inga Schmidt-Syaßen vom Hamburgischen Richterverein warnt vor der "Gefahr einer Fehlinformation, weil die Zuschauer meinen, es gehe vordergründig unterhaltsam und spektakulär zu." RTL-Richterin Ruth Herz, immerhin Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, gibt zu: "Das Geschrei, wie wir es im Fernsehgericht erleben, gibt es in der Regel beim echten Gericht nicht." Wohl wahr, doch wen interessiert's?

Weder Sat.1, RTL, ZDF & Co., noch die TV-Produktionsfirmen, die mit den preiswerten und erfolgreichen Gerichtsshows ihr Geld verdienen. "Richterin Barbara Salesch", "Das Jugendgericht" & Co. konstruieren abstruse Geschichten mit Rosamunde-Pilcher-Pathos und Gerichts-Flair. Fünf Fälle dreht Richter Alexander Hold pro Produktionstag, 25 die Woche, dann regeneriert er sich eine Woche lang. Jeder Fall bedeutet für ihn drei bis vier Stunden Vorbereitung, sein Urteil darf er selbst fällen - sofern es nicht länger als 90 Sekunden dauert. Soviel Zeit muß auch im TV-Gerichtssaal sein. "Ich bin mit Leib und Seele Richter, ich liebe die Aufgabe, und ich finde es klasse, daß wir den Leuten die Justiz nahe bringen können", träumt Hold.

Hauptproduzent von Gerichtsshows ist die Kölner Firma Filmpool, verantwortlich für "Richterin Barbara Salesch", "Zwei bei Kallwass" und "Das Jugendgericht". Weitere Gerichtssendungen sollen folgen, denn kaum ein Format bietet bei so geringen Produktionskosten so hohe Einschaltquoten in so hoher Schlagzahl. Gisela Marx, Geschäftsführerin bei Filmpool, will dennoch an keinen derart ausgeprägten TV-Trend wie bei den Daily Talks glauben: "Nur die Besten werden überleben!" Natürlich im Namen der Quote, nicht des Volkes!


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