© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Preußischer Lombarde
Claudio Abbado nimmt Abschied von Berlin
Julia Poser

Wenn Claudio Abbado am 26. April den Taktstock niederlegt, geht eine große Ära im Musikleben der deutschen Hauptstadt zu Ende: die zwölf Jahre des großartigen lombardischen Dirigenten mit den Berliner Philharmonikern. Erstmalig in der Geschichte dieses seit 1882 bestehenden Orchesters wurde Claudio Abbado in freier und geheimer Wahl von den Musikern zum Chefdirigenten gewählt. Er meinte dazu: "Am meisten hat es mich gefreut, daß ich von den Musikern gewählt worden bin. Es gab keinerlei Einmischungen von außen, ausschließlich künstlerische Überlegungen zählten."

Abbado begann seine Tätigkeit in Berlin, nachdem die Mauer gefallen war und Ost und West sich auch über die Musik annäherten. Rückblickend erinnerte sich Abbado: "Für mich war das eine äußerst intensive Zeit, ich hatte das Gefühl, sehr stark an allem beteiligt zu sein." Das Wirken der Berliner Philharmoniker und Claudio Abbado war auch ein Glücksfall für das Publikum, sei es im Konzertsaal oder zu Hause vor dem CD-Spieler. Mit der Deutschen Grammophon Gesellschaft hat Abbado zahlreiche CDs aufgenommen, darunter zwanzig Opern, die Symphonien von Beethoven, Brahms, Schubert, Mendelssohn und Mahler.

Sein Abschiedsgeschenk an seine Verehrer ist das eben bei der DG herausgekommene "Berlin-Album", das die neunzehn schönsten Mitschnitte aus Konzerten in der Philharmonie bringt. Darunter ist auch Debussys "Nocturnes Fetes", das bisher unveröffentlicht ist. Schon als Siebenjähriger schrieb Abbado nach seinem ersten Konzertbesuch ins Tagebuch: "Ich werde einmal Debussys 'Nocturnes' dirigieren."

Claudio Abbado wurde 1933 in Mailand als drittes Kind einer hochmusikalischen Familie geboren. Ersten Unterricht bekam er von seinen Eltern. Von 1949 bis 1955 studierte er am Mailänder Konservatorium und belegte später in Wien einen Dirigentenkurs. Erste Engagements in Italien folgten. Dann lud ihn Karajan zu den Salzburger Festspielen ein, wo er mit Mahlers "Auferstehungs-Sinfonie" begeisterte Zustimmung fand: "Bestes Festival-Konzert"! Danach begannen triumphale Konzert- und Opernaufführungen in der ganzen Welt. Acht Jahre später wurde Abbado musikalischer Leiter der Mailänder Scala und 1986 Generalmusikdirektor der Stadt Wien und der Wiener Staatsoper. 1989 erfolgte die Wahl zum ständigen Dirigenten und künstlerischen Leiter der Berliner Philharmoniker, wofür er das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhalten hat.

Trotz allen Ruhms ist Abbado immer ein stiller und bescheidener Mensch geblieben. Wo Karajan den Glanz eines Weltstars verbreitete, verachtete Abbado jegliche Dominanz-Allüren. Er habe, sagte er einmal, vor jedem Mitglied dieses wunderbaren Orchesters größten Respekt. Die Musiker wiederum bestätigten, daß sie sich unter seiner freundschaftlichen Führung eher gebeten fühlten. Abbado sah sich selbst nicht als Mittelpunkt einer Aufführung, sondern als deren Koordinator. So war auch das "Zusammen-Musizieren" stets sein wichtigstes Anliegen.

Das "Berlin Album" (DG 471 627-2) zeigt den "preußischen Lombarden" in vielen Facetten: Tänzerisch leicht in Bizets "Arlesienne Suite", heiter in Dvoráks Symphonie "Aus der neuen Welt" und stürmisch bewegt in Wagners "Walkürenritt". Freudiger Jubel klingt aus Brahms "Akademischer Festouvertüre", wuchtig malt er "Das große Tor von Kiew" aus Mussorgskys "Bildern einer Ausstellung", um nur diese zu erwähnen. Ein reiches Abschiedsgeschenk eines großen Dirigenten.

 

Neue Zuhörer

Simon Rattle, der künftige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, will neue Zuhörer für die Konzerte des Orchesters gewinnen. Von der kommenden Spielzeit an wolle er mit traditioneller Klassik, zeitgenössischer Musik und Jazz vor allem junge Menschen an das Orchester binden, so Rattle. Er sehe sich in der Tradition der früheren Chefdirigenten Herbert von Karajan und Wilhelm Furtwängler. Rattle tritt im September die Nachfolge von Claudio Abbado an.


 
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