© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002

 
Peinliche Erinnerung
In Polen streitet man über das Massaker von Jedwabne
Ekkehard Schultz

Ein Zeitdokument der besonderen Art stellt die Ende des vergangenen Jahres von der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Brandenburg edierte Dokumentation über die Jedwabne-Debatte dar. Anhand von ausgewählten Aufsätzen aus Tages- und Wochenpublikationen, Protokollen von Fernseh- und Rundfunkdiskussionen kann sich der Leser ein gutes Bild von der Auseinandersetzung machen. Zugleich ermöglicht die Dokumentation einen kompakten Einblick im politische Meinungsbildung im heutigen Polen.

Auslöser der Kontroverse war eine eigenwillige Darstellung historischer Ereignisse in der Kleinstadt Jedwabne (Bezirk Bialystok) am 10. Juli 1941, nur wenige Wochen nach dem Ende der sowjetischen und kurze Zeit nach Beginn der deutschen Besatzungsherrschaft. In seinem im Mai 2000 publizierten Buch "Nachbarn. Die Geschichte der Vernichtung einer jüdischen Kleinstadt" beschuldigte der in den USA lehrende polnisch-jüdische Historiker Tomasz Gross die damalige polnische Bevölkerung des Ortes, sich selbständig und ohne Mithilfe der deutschen Gendarmerie ihrer jüdischen "Nachbarn" in einer pogromartigen Aktion entledigt zu haben: Die auf dem Marktplatz getriebene jüdische Bevölkerung sei unter Schlägen gezwungen worden, den Platz zu säubern sowie das von den Sowjets errichtete Lenin-Denkmal zu demontieren. Anschließend habe man die sich immer noch auf dem Markt befindliche jüdische Menschenmenge in eine Scheune getrieben, dort eingesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Zahl der Getöteten habe bei über 1.500 gelegen. Doch sei Jedwabne, so Gross, nur ein Beispiel gewesen. Auch in anderen Kleinstädten mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil in der näheren Umgebung hätten sich Polen an ähnlichen Aktionen beteiligt.

Die 2001 auch in einer Filmdokumentation erhobenen Beschuldigungen lösten in der polnischen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung aus, führten aber auch zu intensivem Nachdenken. Die Anklagen rührten an den Grundfesten polnischen Nationalverständnisses und waren in dieser massiven Form bis dahin noch nicht veröffentlicht worden. Gross stützt sich auf Aussagen des Augenzeugen Szmul Waserstajn, der zusammen mit sechs weiteren Juden das Massaker und den Krieg unter dem Schutz der Polin Antonina Wyrzykowska überlebt hatte. Seine Aussage wurde bereits im April 1945 von der Jüdischen Historischen Kommission in Bialystok protokolliert. Danach ging Waserstajn nach Österreich und dann in die USA - weil er sich vor Racheakten fürchtete.

Waserstajns Angaben wurden im Nachkriegspolen zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt, aber als wenig wahrscheinlich beargwöhnt. Ähnliche Aussagen, die von weiteren mutmaßlichen Zeugen erst nach deren Ausreise nach Israel protokolliert wurden, stießen nicht nur in der polnischen Historikerzunft auf Skepsis. Immerhin wurden im Mai 1949 zwölf Personen für die Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Jedwabne zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Wie die offizielle Meinung der Volksrepublik Polen zu den Ereignissen vom 10. Juli 1941 aussah, läßt sich aus der Inschrift des Anfang der sechziger Jahre in Jedwabne aufgestellten Gedenksteins für die jüdischen Opfer entnehmen. Auf diesem wurden für die "Hinrichtung der jüdischen Bevölkerung" Gestapo und "Nazi-Gendarmerie" verantwortlich gemacht.

Mit dem Erscheinen seines Buches traf Gross die ausgeprägt patriotischen Gefühle der Polen. Neben der pauschalen Ablehnung der Beschuldigungen, zu denen das Exil-Polentum Gross gute Angriffsflächen bot, bildete sich zugleich eine weitestgehend sachlich agierende Abwehrfront von polnischen Historikern. Als entschiedenster Kontrahent machte sich schnell der renommierteWarschauer Historiker Tomasz Strembosz, Experte des polnischen Widerstandes, einen Namen. Strembosz lehnte die von Gross geschilderten Sachverhalte nicht pauschal ab, wehrte sich jedoch massiv gegen ihre einseitige Interpretation. Nach seiner Auffassung habe der Zeuge Waserstajn nicht die wahren Täter genannt. Seine Beschuldigungen müßten im Rahmen ihrer Vorgeschichte gewertet werden. Die Geschichte Polens sei seit der Aufteilung des Staates im 18. Jahrhundert nur als ständiger Kampf der Mehrheit des Volkes gegen feindliche Mächte - Russland und Preußen - zu begreifen. Für die Ereignisse in Jedwabne liege die wesentliche Ursache, die zu den polnischenReaktionen geführt habe, in dem Verrat der jüdischen Bevölkerung an Polen. So hätten sich die Juden 1939 mehrheitlich den einrückenden Sowjets zur Verfügung gestellt und damit dem polnischen Volk großen Schaden zugefügt. Der damals populäre Begriff "Judenkommune" habe daher durchaus einen realen Gehalt gehabt. So sei der Groll der Polen durchaus verständlich, zumal sich viele beim Rückzug der Russen an zahlreichen Morden beteiligt hätten. In dieser Lage sei der Einmarsch der Deutschen begrüßt und - obwohl man ihn keinesfalls ersehnte - als einzige Möglichkeit zur Abschüttelung des stalinschen Joches begriffen worden. Danach sei es zu brutalen Racheaktionen gekommen, die aber nie auf die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung zielten. Für diese trügen immer noch allein Deutsche Verantwortung. Diese Interpretation fand rasch Anklang bei der Mehrheit der Polen. Deren Nationalgefühl basiert auf einer positiven Bewertung des nationalen Kampfes im 19. und 20. Jahrhundert, und jeder Angriff auf diese Staatsdoktrin wird als Unterminierung der Integrität Polens aufgefaßt. Diese Haltung kommt selbst in Artikeln des Liberalen Adam Michnik zum Ausdruck, der unter der Überschrift "Der Schock von Jedwabne", in der auflagenstärksten Tageszeitung Gaseta Wyborcza im März 2001 schrieb: "Im 19. Jahrhundert, als der polnische Staat nicht existierte, bildete sich die moderne polnische Nation auf der Grundlage ethnischer und religiöser Bindungen. Dies geschah in Opposition zu den Nachbarnationen, die dem polnischen Traum von der Unabhängigkeit gleichgültig oder feindlich gegenüberstanden." Wie in anderen Ländern mit jüdischer Bevölkerung wurde der "Antisemitismus zum ideologischen Kitt eines großen politischen Lagers". Doch das einzige wesentliche Entscheidungskriterium sei für die polnischen Nationalisten immer der Freiheitskampf des Volkes gewesen. Dies habe später zur Folge gehabt, daß "viele polnische Antisemiten" zugleich "Helden der Befreiungsbewegung" gegen Hitler wie auch gegen Stalin waren.

Sowohl Stembosz als auch Michnik drücken die Angst vieler Polen vor dem Verlust ihres offiziellen Geschichtsbildes aus. Man fürchtet weniger die Folgen, die ein Eingeständnis in Sachen Jedwabne haben könnte, sondern vielmehr die Konsequenzen, die aus einer Revision der Geschichte des polnischen Zwischenkriegsstaates (1916-39) entstehen könnten. Einen weiteren Komplex der Debatte bildete die Frage nach der Bedeutung und der Ausprägung des polnischen Antisemitismus. Dabei provozierte Gross wiederum Polens Historiker. Er vertrat die These, daß der polnische Antisemitismus kein vorübergehendes, sondern ein manifestes Phänomen sei, der nicht nur das Vertrauen der Juden vor 1945 zerstört habe, sondern auch heute noch jede ehrliche Aussöhnung mit ihnen und ihren Nachkommen verhindere. Die Kritiker stellten dagegen fest, daß der polnische Antisemitismus kein Eigengewächs sei, sondern durch die russischen Herrscher im 19. Jahrhundert planmäßig unter der Parole "Teile und Herrsche" gezüchtet wurde. Daher habe er unter diktatorischen Verhältnissen nie ähnlich katastrophale Auswirkungen gehabt wie anderswo. Zudem wiesen sie stets auf Polens primäre Opferrolle hin: Verglichen mit anderen besetzten Staaten hätten Hitler und Stalin an der Weichsel kaum Renegaten gefunden.

Insgesamt umfaßte das Spektrum der sich zur Debatte äußernden Parteien Meinungen, die von einer radikalen Ablehnung bis zur weitestgehenden Annahme der Beschuldigungen reichten. Zu den ersteren zählten zweifelsohne Gruppen, die sich an dem Manifest eines "Komitees zur Verteidigung des guten Namens der Stadt Jedwabne" beteiligten. Dieses Komitee vertrat die bizarre Auffassung, daß Polen, die auf einen latenten Antisemitismus im früheren und heutigen Polen verweisen, in der Mehrzahl vorher "mit einer Flasche Wodka" und mit "bis zu 100 US-Dollar" bestochen wurden.

Ähnliche Stimmen ließen die nationalistisch-katholischen Medien des Landes, wie die Tageszeitung Nasz Dziennik oder Radio Maryja (JF 9/02), vernehmen, die zur Erklärung der Vorwürfe das Muster einer "deutsch-jüdischen Verschwörung" nicht scheuten. Auf der anderen Seite standen Politiker wie der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski, der trotz grundsätzlicher Skepsis an einigen Angaben von Gross an einer Trauerfeier in Jedwabne am 10. Juli 2001 teilnahm - einer Veranstaltung, die auf starke Ablehnung auf Seiten der örtlichen Bevölkerung stieß.

Fototext: Jedwabne 2001: Der polnische Präsident Kwasniewski gedenkt der anti-jüdischen Pogrome

Ruth Henning (Hrsg).: "Die Jedwabne-Debatte" in polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Deutsch-Polnisches Informationsbulletin, Nr.23, 2001.


 
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