© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/02 26. April 2002


Der Staat ist kein Übervater
von Ralf Fischer

Scheitert Deutschland?" -unter dieser Frage formuliert der Publizist Arnulf Baring in dem gleichnamigen Buch seine harsche Kritik an den gegenwärtigen politisch- gesellschaftlichen Zuständen in Deutschland. Ebenso wie Baring haben der Soziologe Erwin K. Scheuch und der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim die Mißstände der modernen Parteiendemokratie, insbesondere auch unter dem Aspekt der Personalrekrutierung für öffentliche Funktionen angeprangert.

An dieser Stelle soll nun der Blick weg von politisch-institutionellen Aspekten und der Besetzung öffentlicher Ämter und Funktionen hin zur Betrachtung der Staatsorganisation im eigentlichen Sinne gelenkt werden. Es ergibt sich somit zur Einleitung eine erweiterte Fragestellung: "Wie oft ist Deutschland schon gescheitert?" bzw. präzisiert "Wie oft sind deutsche Staatsmodelle schon gescheitert?".

Wählt man die Gestaltung der preußischen Staatlichkeit als erste Zäsur aus moderner Sichtweise, darf man wohl die Niederlage gegen Napoleon 1806 als erstes Scheitern ansehen, das den Abschied vom feudal-absolutistischen Staatsorganisationsmodell besiegelte. Für diese Betrachtung sind dabei die wahrgenommenen Aufgaben der Machtausdehnung des Herrscherhauses, des Landesausbaus sowie der inneren und äußeren Sicherheit interessant.

Das konstitutionelle Deutschland-Preußen als zweites Modell scheiterte lange vor Versailles an der Unfähigkeit, den Widerspruch zwischen Bürgergesellschaft und militärorientierter Staatsautorität auszugleichen sowie durch die Ausgrenzung der Arbeiterklasse aus Politik und Gesellschaft. Als zusätzliche Aufgaben traten hier Bildungs- und Wissenschaftsbelange, die Entwicklung und Durchsetzung einer bürgerlichen Rechts- und Gesetzesordnung sowie in Ansätzen Aufgaben der sozialen Absicherung in die Aufgabenagenda des Staates ein. Betrachtet man die Weimarer Republik als Übergangszeit der zivilen Bürgerkriege, folgt schließlich die Phase der Totalitarismen, die sich gleichzeitig als Erziehungsdiktaturen verstanden und damit mehr oder minder die totale Inanspruchnahme des Staates (und auch der Staatsbürger) durch die Ideologien bedingten.

Alle diese Modelle sind im Endeffekt an ihren eigenen Widersprüchen gescheitert; neue staatsorganisatorische Ideen sind dabei nicht von den alten Funktionseliten, sondern durch politisch und gesellschaftlich nicht in die alte Ordnung integrierte Gruppen entwickelt worden.

Die Bundesrepublik hat sich nun in ihrem gut fünfzigjährigen Bestehen zu einem umfassenden Wohlfahrts- und Interventionsstaat entwickelt.

In diesem Zusammenhang ist oft von einer umfassenden Sozialdemokratisierung des politischen Lebens und der gesellschaftlichen Werte gesprochen worden.

Was meint diese Formulierung?

Aus staatsorganisatorischer Sicht bedeutsam ist vor allem der Anspruch der Politik und damit des Staates, alle Lebensgebiete gestalten und regulieren zu wollen.

Um diesen Anspruch umsetzen zu können, haben die jeweiligen Regierungen die staatlichen Organisationen, hauptsächlich den Bereich des öffentlichen Dienstes, enorm ausgebaut. So ist der öffentliche Dienst mit all seinen Institutionen der größte Arbeitgeber in Deutschland.

Insbesondere seit den Siebziger Jahren hat es sich eingebürgert, als öffentlich deklarierte Aufgaben über Kredite zu finanzieren. Als Ergebnis dessen droht den öffentlichen Haushalten perspektivisch der Zusammenbruch, da sie sich in einem Ausgabendreieck von jeweils ansteigenden Personalausgaben, Zinszahlungen und sozialen Transferzahlungen bewegen, das kaum noch Raum für gestaltende Ausgaben, wie zum Beispiel für Forschung und Bildung läßt.

Sozialdemokratisierung meint nicht zuletzt die Etablierung einer grundlegenden Anspruchshaltung der Bürger gegenüber dem Staat, gerade in materieller Hinsicht.

In Deutschland hat sich mittlerweile eine Mentalität etabliert, die bei Problemen und Nöten immer den Staat in der Hauptverantwortung sieht. Dabei hat sich die deutsche Gesellschaft immer stärker von ehedem hoch im Kurs stehenden Gesellschaftsvorstellungen entfernt, die die Verantwortung für die Gestaltung und Planung der persönlichen Lebensumstände dem Individuum zuweisen.

Nicht nur der einzelne Bürger übergibt Gestaltungsmöglichkeiten, die wie die Erziehung der Kinder und die Vermittlung von Werten früher zum grundlegenden Individualbereich gehörten, an den Staat ab. Auch im Wirtschaftsleben haben sich Verhaltensweisen verfestigt, die die Sanktionsmechanismen des Marktes durch die Einforderung von Subventionen aushebeln.

Dabei gilt, daß derjenige die besten Chancen auf Erfüllung seiner Forderungen hat, der über gut organisierte bzw. weitgehend institutionalisierte Artikulationsmöglichkeiten und Interessenvertretungen verfügt.

Dies hat eine politische und gesellschaftliche Situation geschaffen, die durchaus den Endzuständen der eingangs genannten Phasen ähnelt. Die Unfähigkeit der Politik bzw. der in politischer Verantwortung stehenden Funktionsträger der Parteien, die Gesellschaft an die sich rasant ändernden Bedingungen und Erfordernisse des globalen Wettbewerbs anzupassen, ist mit den Begrifflichkeiten Reformstau und Staatsversagen bereits hinlänglich beschrieben worden.

Im Unterschied zu früheren Staatsorganisationsmodellen kann man für die Bundesrepublik von einem relativ hohen Grad der Einbindung unterschiedlichster gesellschaftlicher und sozialer Gruppen in das politisch- administrative System ausgehen, weshalb es bisher zu keinen nennenswerten Entfremdungstendenzen zwischen Staat und Bürgern gekommen ist.

Speziell in der ausgeprägten Bereitschaft der Politik, Klientel- und Interessengruppen durch staatliche Maßnahmen an sich zu binden, liegt die Stabilität heutiger politischer Herrschaft begründet, die jedoch, wie zuvor dargestellt, in naher Zukunft nicht mehr zu finanzieren sein wird.

Aber nicht nur unter finanzpolitischen Gesichtspunkten läßt sich eine akute Staatsorganisationskrise konstatieren. Groteskerweise sind die Erfolge staatlichen Handelns an sich trotz nominell gestiegener Ausgaben eminent zurückgegangen, worauf nicht nur die kürzlich veröffentlichte PISA-Studie hinweist.

Generell verringert sich die Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen. Zudem ist eine deutliche Verschlechterung von Standards und Qualitäten bei Dienstleistungen der öffentlichen Hand festzustellen.

Davon betroffen sind neben dem Bildungssektor in nicht unerheblichem Maße die universitäre Wissenschaft und Forschung, die Arbeitsmarktpolitik (Abbau der Arbeitslosigkeit), die Vermittlung kultureller und ethischer Werte, die Durchsetzung der öffentlichen Sicherheit (zunehmend rechtsfreie Räume), die Bearbeitung von Justizverfahren (Verfahrensdauer), die Betreuung von Kindern und Jugendlichen sowie die öffentliche Infrastruktur.

Am offenkundigsten ist die weitgehende Wirkungslosigkeit des Einsatzes öffentlicher Mittel beim sogenannten Aufbau Ost; auch mit dem neuen Solidarpakt ist eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in den östlichen Bundesländern nicht in Aussicht.

Insbesondere die Organisationsebene der Kommunen verfügt nicht mehr über die notwendigen Möglichkeiten, das gesellschaftliche Leben in den Städten und Gemeinden entsprechend den Notwendigkeiten der Bürger zu gestalten, obwohl auf dieser Ebene die Auswirkungen staatlichen Handelns am unmittelbarsten wahrzunehmen sind.

Bürgermeister, Deutscher Städtetag sowie wissenschaftliche Institutionen verweisen derzeit unter Bezug auf den Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen auf den faktischen Kollaps der Kommunalfinanzverfassung. So sehen sich immer mehr Kommunen gezwungen, ihre freiwilligen Dienstleistungsangebote (Sportanlagen, Bibliotheken, Jugend- und Kulturprojekte) wie beispielsweise in Braunschweig zu verringern. Ironischerweise haben sich die Kommunalparteien CDU und SPD gerade mit dem Ausbau derartiger öffentlicher Angebote ihre politische Vormachtsstellung erkämpft.

Ergänzend dazu erfolgt seit Mitte der Neunziger Jahre eine durchgreifende Privatisierung öffentlicher Versorgungsaufgaben im Bereich der Energie- und Wasserversorgung, so zum Beispiel in Bremen, Berlin, Düsseldorf oder auch Kiel.

Verheerend für das System der Kommunalfinanzen wirkt sich die Bundes- sowie teilweise die Landesgesetzgebung aus, die Ansprüche der Bürger auf bestimmte Dienstleistungen und materielle Hilfeleistungen gesetzlich fixiert, die finanziellen Folgen aber weitgehend auf die Kommunen abwälzt.

Ebenfalls seit Mitte der Neunziger Jahre sind in Deutschland Bestrebungen zu erkennen, die öffentliche Verwaltung grundlegend unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten im Rahmen des "Neuen Steuerungsmodells" zu modernisieren.

Mit unterschiedlichen Realisierungsgraden sind dabei auf der Ebene der Kommunen und Länder Kostenrechnungssysteme zur Verbesserung der Transparenz der Verwendung öffentlicher Finanzmittel, dezentrale Ressourcenverantwortung zur Aktivierung der Potentiale der Führungskräfte, Controllingsysteme sowie neue Ansätze des Personalmanagements entwickelt und eingeführt worden.

Hinter diesem Ansatz verbirgt sich die Hoffnung, die Effizienz des öffentlichen Dienstes zu steigern, um im Rahmen des bisherigen Verwaltungs-Organisationsprinzips öffentliche Dienstleistungen erbringen zu können.

Widerstände gegen derartige Reformbestrebungen ergeben sich in erster Linie aus dem Beharrungsvermögen eines großen Teils der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, vorrangig auf der Ebene der Führungskräfte, durch die oft mangelnde politische Unterstützung sowie die unzureichenden Zielbestimmungen des Reformprozesses durch die Reform- Akteure.

Auch Bundesinnenminister Otto Schily hat das Thema Verwaltungsreform aufgegriffen und dabei erste Ansätze zur Modernisierung des Beamtenrechts in Angriff genommen.

Ausgehend von den Ergebnissen des von der Regierung Kohl eingesetzten Sachverständigenrates "Schlanker Staat" hat sich in Deutschland eine zaghafte Diskussion unter dem Stichwort Aufgabenkritik entwickelt, in deren Mittelpunkt strukturelle Überlegungen für eine neue Systematik der Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft stehen. Basis-Ansatz für diese Überlegungen ist die Klärung der grundsätzlichen Fragen, welche Aufgaben originär vom Staat und welche von der Gesellschaft, sprich auf der Ebene der Bürgerschaft, wahrgenommen werden sollen.

Folgende gesellschaftspolitische Erkenntnisse bilden das Leitgerüst der Aufgabenkritik-Diskussion, die im wesentlichen ordnungspolitisch und nicht politisch-operativ geführt werden sollte:

Verwaltungsstruktur (Ämterverwaltung) und Verwaltungsmentalität (Zuständigkeitsprinzip) entsprechen überwiegend den gesellschaftlichen Bedingungen der obrigkeitsstaatlichen Gesellschaftsstruktur des 19. Jahrhunderts.

Die Bürger haben sich größtenteils aus der Vormundschaft des Staates befreit, Wissens- und Einkommensniveau erlauben breiten Bevölkerungsschichten eine individuell variierbare Lebensplanung.

Die moderne Wissens- und Kommunikationsgesellschaft ermöglicht allen Bürgern den Zugriff auf ein größtmögliches Informations- und Wissensangebot.

Eine volkswirtschaftlich optimale Ressourcenverteilung erfolgt in vielen Bereichen nur über wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen, deren Grundlage privates Eigentum und private Verantwortung für Kapital und Ressourcen bilden. Innovationspotentiale bilden sich oft nicht mehr aus staatlichen Institutionen, sondern aus privat-(wirtschaftlichen) Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen heraus.

Das fehlende Staatsethos der Beschäftigten im öffentlichen Dienst (ein wesentlicher Unterschied zum preußischen Staatswesen) hat zur Aufgabe des Gemeinwohldenkens im öffentlichen Dienst geführt; wesentliche Motivation für die Beschäftigten ist die Einkommenssicherung sowie die berufliche Karriereplanung.

Angesichts von auf die Gesellschaft einwirkenden Einflüssen und Ausgangsbedingungen, die sich in immer kürzeren Abständen ändern, sind die starre Struktur und die langwierigen Verfahrensabläufe (unter anderem das öffentliche Dienstrecht) der öffentlichen Verwaltung ungeeignet, flexibel auf die Erfordernisse der heutigen Zeit zu reagieren.

Im Rahmen der Aufgabenkritik- Debatte wird ein neues Organisationsmodell für die Organisation der staatlichen Einrichtungen, insbesondere für die öffentliche Verwaltung, zu entwickeln sein.

Des weiteren ist zu klären, welche operativen Aufgaben die öffentliche Verwaltung wahrnehmen soll, und für welche Bereiche die öffentliche Verwaltung in Richtung einer mit Gewährleistungsverantwortung betrauten Steuerungsverwaltung umorganisiert werden muß.

 

Ralf Fischer ist Mitarbeiter der Arbeitsgruppe 1 - Rolle des Staates im 21. Jahrhundert - im Institut für Staatspolitik (IfS).


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