© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/02 03. Mai 2002


Gewalt und Medien
Die Wirklichkeit kontrollieren
Silke Lührmann

In Krisenzeiten werden seit jeher als erstes die Dichter aus der Republik verbannt - weniger, weil sie so gefährlich wären, sondern weil sie entbehrlich sind, keinen spürbaren Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten und aus ihren kläglichen Einnahmen kaum Steuern zahlen. In Zeiten nationaler Erklärungsnotstände regt sich der Aberglaube; auf seinen Altären müssen Opfer dargebracht, Sündenböcke geschlachtet werden. So kann man sich und das Volk mit dem Gedanken trösten, daß es bloß die Macht der bösen Bilder war, die einen Gymnasiasten dazu getrieben hat, eine furchtbare Tat zu begehen. Denn in unserem technologisch fortgeschrittenen Jahrhundert sind es längst nicht mehr die Dichter, sondern die Filmemacher und Erfinder von Computerspielen, die dafür büßen, wenn Phantasien unfaßbar Wirklichkeit werden.

"Wir Künstler haben die Natur nicht erfunden", sagte der Regisseur Oliver Stone 1995 zur Verteidigung seines filmischen Blutbades "Natural Born Killers". "Wir halten ihr lediglich einen Spiegel vor. Daß dieser Spiegel heutzutage ein digitales Medium ist, macht ihn um so unheimlicher ... Um so schneller wird das Gespenst der Zensur heraufbeschworen." Der Biograph und Essayist Michael King verwendet einen Kulturbegriff, der brauchbarer ist als die uralte Debatte, ob die (menschliche) Natur der Kultur Modell steht oder aber - wie es zunehmend den Anschein hat - umgekehrt. Kultur, sagt King, sei "die Summe alles dessen, womit die Menschen sich befähigen, der Wirklichkeit entgegenzutreten". Elastischer als das marxistische Konstrukt von Basis und Überbau, befriedigender als die aristotelische Apologetik einer bloß mimetischen Kunst, auf die Stone sich beruft, ist diese Definition eine Weigerung, zwischen den Funktionen von Hoch- und Populärkultur zu unterscheiden. Zugleich und vor allem aber ist sie eine Absage an das postmoderne Verständnis einer "völlig losgelösten" Kultur, die in keinerlei Beziehung zur materiellen Wirklichkeit steht.

Das verstörte Gestammel auf das Ereignis in Erfurt - "So etwas kennen wir doch nur aus dem Fernsehen. Das passiert doch nur in Amerika" - zeigt, wie fremd uns die Erfahrung - aber auch der Wunsch - geworden ist, unsere Wirklichkeit kontrollieren, gegebene Zustände ändern zu können.

Daß sich gewaltverherrlichende Filme im Besitz so gut wie jedes Gewalttäters finden lassen, ist sicher kein Zufall, aber auch kein Beweis eines Kausalzusammenhangs. Es beweist lediglich, wie beliebt, wie weitverbreitet solche Materialien sind. Die Frage ist nicht, welche Videos und Computerspiele einen intelligenten jungen Mann zum Amokschützen werden lassen. Die Frage lautet: Gegen welche Wirklichkeit meint man sich mit solch blutigen Phantasien wappnen zu müssen? Eine Antwort auf diese Frage kann und darf weder entschuldigen noch erklären, aber sie muß wenigstens gesucht werden. Ansonsten bleibt nur, Schüler wie Lehrer mit kugelsicheren Westen und Leibwächtern auszustatten und bewaffnete Wachen an den Schulpforten aufzustellen, wie es in den USA selbstverständlich geworden ist. 


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