© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/02 03. Mai 2002

 
Die Gestaltung der Gestalt
"Wieviel Körper braucht der Mensch", rätselt die Körber-Stiftung in Namen der Rationalität
Silke Lührmann

Das 21. Jahrhundert hat seine Schwierigkeiten mit dem Körper. Als letzte Bastion des unausweichlich Realen ist er zugleich Hoffnungsträger und Ärgernis. Und weil er beides zugleich nicht sein kann, ist "Ich fühle, also bin ich" entweder ein Eingeständnis noch unvollkommen überwundener Menschlichkeit oder aber der Nullpunkt eines neuen (und gewollt nostalgischen) Selbst-Bewußtseins. Das Gefühl selbst als elementarste Wahrnehmungsstufe körperlicher Bedürfnisse ist in der Wohlstandsgesellschaft, die alle körperlichen Bedürfnisse auf Abruf zu befriedigen vermag, zum vagen Ausdruck jedweden Seelenschmerzes verkommen.

Das weltweite Aufsehen, das Eve Enslers "Vagina-Monologe" seit Jahren erregen (JF 35/01), ist nicht zuletzt der Erleichterung geschuldet, daß sich nun auch die unanständigsten Körperteile im öffentlichen Diskurs vernünftig zu Wort melden und damit ihre Macht preisgeben, etwas anderes, in seiner Triebhaftigkeit weniger Kontrollierbares zu erregen als nur mediales Aufsehen.

Der tägliche Ansturm auf die "Körperwelten" wurde am Ende auch zu einem nächtlichen, als die Berliner Schau rund um die Uhr geöffnet blieb, um dem ungeheuren Publikumsinteresse beizukommen. Er zeugte von einer Gier nach dem Echten, das die ausgestellten Plastinate verkörperten und verewigten - und somit unterliefen: Kunst, die unter die Haut geht.

"Wieviel Körper braucht der Mensch?" ist alles in allem eine berechtigte Frage. Am besten gar keinen, lautet die heimliche, unheimliche Antwort des 21. Jahrhunderts. Hätte es sich bei den Toten des 11. September um bloße Körper gehandelt - wie die vielen Körper, die Tag für Tag in einer ganz anderen, der sogenannten dritten, Welt verenden - und nicht um Humanressourcen, in deren Ausbildung von staatlicher und wirtschaftlicher Seite große Summen investiert wurden, wäre der Schaden halb so schlimm. Nicht zufällig richtet sich die Kompensation, die die Familien der Opfer erhalten, nach deren Einkommen.

Die aerobisch und ernährungstechnisch perfektionierten Körper, die zumindest auf Fernsehschirm, Kinoleinwand und Werbeplakat die moderne Großstadt bevölkern, künden als Vorstufe von dem Ideal des geklonten Körpers, der keiner mehr ist. So reagierte die abendländische Zivilisation auf das Trauma der Aids-Epidemie, die ihr vor zwanzig Jahren die Todesangst mitten ins Gedächtnis zurückrief.

"Wieviel Körper braucht der Mensch?" ist die so politische wie philosophische Frage nach der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur, zwischen Dinghaftigkeit und Menschenwürde. Der italienische Heidegger-Schüler Giorgio Agamben begegnet ihr mit seinem Begriff des homo sacer - des aus dem Gesellschaftsvertrag Verstoßenen und Entlassenen, dessen einziger Wert sein Leben ist - als emblematischer Figur des letzten Jahrhunderts. Dietrich Schwanitz sucht und findet sein Heil in der Sexualität, einem Acker, den allerdings der Feminismus - am nachhaltigsten Judith Butler mit ihrem "Unbehagen der Geschlechter" - längst unfruchtbar gemacht hat.

Die Aufsatzsammlung der Körber-Stiftung, die sich dieser Thematik stellt, verortet den Körper im Spannungsfeld zwischen seinen Funktionen als Medium der Selbsterfahrung und Objekt natur- wie sozialwissenschaftlicher Forschung. In ihrem Mittelpunkt steht die Entwicklungsgeschichte der Maschine Mensch, der "Synergien von Körpern und Technologien", von Marxs "Martyrologie der Produzenten" über den gestählten Arbeiterhelden der Moderne bis zur postindustriellen Verkopfung. Heute erfordert Arbeit "nicht mehr primär physische Kraft, sondern eher die Fähigkeit, Bewegungsarmut auszuhalten". Entsprechend wandelte sich auch die Metaphorik: Einst Motor und Reservoir von Arbeitskraft, ist der Körper wahlweise zur "Benutzeroberfläche", "empfindlichen Außengrenze der Persönlichkeit", zum "Aufbewahrungsort für das Gehirn" mutiert.

Auf das dünne und von aufgeregten Füßen spiegelglatt gerutschte Eis der Humangenetikdebatte - so glatt, daß die Genforschung gerne ein Schild aufstellen würde, welches Unbefugten das Betreten bis auf weiteres untersagt - wagt sich der von Gero von Randow, FAS- und ehemaliger Zeit-Redakteur, herausgegebene Band wohlüberlegt nicht hinaus. Statt dessen will er im Vorfeld dringend notwendige Sondierungen leisten. Die Autoren stellen Handlungs- und vor allem Verhandlungsbedarf fest, verneigen sich aber allzu oft allzu tief vor dem Status quo, als wäre er das Ergebnis kollektiver oder gar demokratischer Willensbildung. So liest sich der Beitrag des Sportwissenschaftlers Karl-Heinrich Bette "Körper, Sport und Individualisierung" wie die im Auftrag der Fitneßindustrie erstellte Zielgruppenstudie eines Unternehmensberaters.

Gestalt ist gestaltbar geworden, der Körper nicht mehr Schicksal, sondern Möglichkeit. Daß mit der Chance die Pflicht zur Nachbesserung einhergeht, bleibt zumeist ungesagt. Als Gewährsleute einer neuen Künstlichkeit werden immer wieder Judith Butler und Andy Warhol herbeizitiert. Butler denkt Geschlecht nicht naturgegeben, sondern performativ hergestellt: in normierter Serienproduktion oder als Einzelstück in Handarbeit. Warhol sieht sich bei der Suche nach erlösender Sinnstiftung auf die Versprechen des Bodybuilding zurückgeworfen - ironisch gewiß, aber deshalb nicht weniger ernsthaft. Seine Bilderfolge "Be a somebody with a body", die den Christus aus Leonardo da Vincis Abendmahl mit einem heiligenscheingekrönten Muskelprotz aus einer Reklame überblendet, entstand ein Jahr vor dem Tod des Künstlers, der seit langem an den Folgen einer Schußverletzung litt. "Nachdem die Jenseitsversprechen der Religion viele Menschen nicht mehr in ihren Bann schlagen können, gilt dem Körper als zentralem Repräsentanten des Diesseits alle Aufmerksamkeit", konstatiert Bette, und der im Münchner Graduiertenkolleg "Geschlechterdifferenz und Literatur" promovierte Wilhelm Trapp formuliert kerniger: "Der Waschbrettbauch verkörpert den Sexappeal einer protestantischen Leistungserotik ...: Ich fresse nicht, ich arbeite."

Im virtuellen "Raum", so wollen es seine Apostel und Apologeten, sind der individuellen Gestaltungsfreiheit keine physischen Grenzen mehr gesetzt, sondern allenfalls technologische und mentale, die mit jeder Windows-Edition weiter ins Unendliche rücken. Bislang hat sich weder der Traum noch die Befürchtung erfüllt, der Mensch könne auf dem Rücken seiner Maus alle Denkblockaden überspringen und die Sterblichkeit hinter sich lassen. "Ohne den Körper kann der Mensch sich nicht sozial positionieren, auch nicht in digitalen Räumen", behauptet die Soziologin Gabriele Klein. Netzforen können und sollen die Agora, ja Agonie der klassischen Volksherrschaft nicht ersetzen, bekräftigt von Randow: "Die physische Anwesenheit im Wahllokal, die ... aufgeopferte Freizeit, der ästhetische Tort, den der Wähler sich antut, indem er unwirtliche Schulgebäude aufsucht, alles das gehört zum Ritual eines symbolischen Opfergangs für die Demokratie."

Schließlich ist "Wieviel Körper braucht der Mensch?" ein Plädoyer für Vielfalt. "Das Schöne", sagt Trapp, der sich mit der Vermarktung von Schönheit als "Bioaktie" befaßt, "ist immer das Seltene, das Besondere. Wenn jede Frau den perfekten Busen, jeder Mann seinen Waschbrettbauch hat, dann wird das gewöhnlich sein. Das Schöne - was wir begehren, weil wir es nicht haben - wird in neuer Form erscheinen."

"Seinen eigenen und den des anderen", antwortet die Kulturwissenschaftlerin Kerstin Gernig und meint emphatisch: "des Anderen". Denn erst im Anblick des Gegenüber nimmt der postmoderne Mensch - zumal, wenn er brav seinen Lacan und Levinas studiert hat - eigene Konturen an. Die ethische Dimension dieses Gedankens, das biblische Gebot zur Nächstenliebe, muß im globalen Zeitalter "Liebe Deinen Fernsten wie Dich selbst" besagen.

Daß diese stellvertretende Sorge um das Selbst zu beliebig wuchert, verhütet in Deutschland das Gesetz, indem es die Lebendspende von "Organen, die sich nicht wieder bilden können", nur an "Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen, die dem Spender in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahestehen", erlaubt: Die juristischen Grauzonen, die sich aus der Unsicherheit ergeben, ob der Körper unter das Eigentumsrecht oder den Persönlichkeitsschutz fällt, erläutert die Rechtswissenschaftlerin Gabriele Wolfslast.

Für Christina de Wit, Molekularbiologin und Mitglied der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages, steht fest, daß allein der Menschenkörper ethischer Bedenken wert ist: Vorgehen, die in Tierversuchen Anwendung finden, sind "derart radikal, daß es einem menschlichen Patienten nicht zuzumuten wäre". In der Tat billigen wir "die Tötung von Tieren schon für die Produktion von Fleisch", und es entsteht kaum "Rechtfertigungsdruck, wenn Tiere als 'Organquelle' Verwendung finden". De Wits vehemente Forderung, die Transplantationsmedizin dürfe nicht zur "Dienstleistung" werden, deren Verfügbarkeit "eine ungesunde, unvernünftige Lebensweise förder(t)", gestattet die Nachfrage, was sie denn sonst sein soll: Selbstzweck?

"Wieviel Körper braucht der Mensch?" ist ökonomisch gefragt: Symptom einer gesamtgesellschaftlichen Eßstörung, die fiebert, alles Fleischliche abzuspecken und in Stromlinienform zu bringen. "Der Körper der Macht ist schlank und durchtrainiert", stellt Klein für die Post-Kohl-Ära fest. Wieviel Körper dem Menschen bleibt, wird auch im 21. Jahrhundert davon abhängen, ob wir den Zweckrationalismus zum Leitgedanken unseres Seins erheben.

Gero von Randow (Hrsg.): "Wieviel Körper braucht der Mensch?" Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2001, 198 Seiten, 12 Euro


 
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