© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/02 03. Mai 2002

 
Drang nach Westen
Vertreibung: Der polnische "Westgedanke" kalkulierte die Hilfe der Großmächte immer mit ein
Stefan Scheil

Was buchstäblich nahe gelegen hätte, ist lange unterblieben und in letzter Zeit doch noch Realität geworden: Der moderne polnische Nationalismus ist mit all seinen Aspekten ins Blickfeld der Forschung geraten. Vor drei Jahren veröffentlichte etwa Werner Benecke eine fundierte Untersuchung über die Polonisierungspolitik in den Ostgebieten der Zweiten Polnischen Republik zwischen 1919 und 1939. Ein Jahr später deutete Brian Porter den polnischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts als Extrembeispiel und Vorreiter für eine europäische Entwicklung: "Als der Nationalismus zu hassen begann" erschien in der renommierten Oxford University Press. Jetzt widmet sich Roland Gehrke in seiner Hamburger Dissertation einem ganz besonderen Aspekt des polnischen Nationalismus: dem sogenannten Westgedanken. Gehrke will klären, wie es möglich war, daß im Laufe des 19. Jahrhunderts Teile Deutschlands zum Gegenstand polnischer Ansprüche werden konnten, die entweder niemals oder nur vor Jahrhunderten für kurze Zeit zu Polen gehört hatten. West- und Ostpreußen, Pommern und Schlesien waren die meistgenannten Ziele polnischer Agitation. Aber auch Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen gerieten ins Blickfeld, ja vereinzelte Stimmen orteten gar das Rheinland und Schwaben als Bereiche polnischer Tradition.

Allein diese Bestandsaufnahme ist schon spektakulär und deutet an, in welchem Umfang hier das Reich des Absurden betreten wurde. Vorweg kann auch gleich gesagt werden, daß selbst Gehrke im Rahmen seiner ausgezeichneten Untersuchung keine vollständige Begründung für diesen Vorgang liefern kann. Wahrscheinlich kann es auch keine nachvollziehbare Erklärung dafür geben, daß hier von Anfang an mit einer fast beliebigen Mischung aus strategischen, geographischen, wirtschaftlichen, historischen, religiösen, ethnischen und letzten Endes willkürlichen Behauptungen an einem Expansionsprogramm gearbeitet wurde. Anders als bei den räumlich vergleichbar weitgespannten polnischen Ansprüchen in Osteuropa, die sich auf eine Feudaltradition der Frühen Neuzeit beriefen und darauf, daß polnische Truppen mehrmals in Moskau einmarschiert waren, war der Westgedanke eine voraussetzungslose Neuschöpfung. Wie nicht nur Friedrich Nietzsche beobachtet hat, ist der Verstand im Zweifelsfall ein gehorsamer Diener des Willens. Warum sich dieser Wille hier so extrem nach Westen richtete, wird ein Geheimnis bleiben.

Zeitlich hängt das Aufkommen des Westgedankens mit dem Zusammenbruch des alten polnischen Staates zusammen. Noch dessen Verfassung von 1791 hatte zwar Anspruch auf alle Gebiete erhoben, die vor und nach der ersten polnischen Teilung russisch geworden waren. Sie verzichtete aber auf jede Erwähnung preußischer Landstriche und erkannte Preußens Grenzen daher auch dort an, wo sie östlich der Grenze des Deutschen Reiches lagen. Das änderte sich, als die Adelsrepublik nicht mehr existierte und die polnische Publizistik dem eigenen Adel die Schuld daran gab. Zunächst nicht ohne Ähnlichkeit zur deutschen Romantik wurde auch in Polen das Volk als Träger der Geschichte entdeckt. Gehrke zieht solche Parallelen und führt aus, daß beispielsweise Herders Polenbild vom friedlich siedelnden Bauernvolk nachhaltigen Einfluß auf das polnische Selbstverständnis gehabt hat. So hatte man sich selbst zuvor noch nie gesehen. Jetzt allerdings öffnete unter anderem dieses Klischee die Tür zu den Behauptungen, dieses Bauernvolk würde eigentlich immer noch auf dem gesamten Boden Preußens leben und sei dort nur unterdrückt.

Bereits 1808 war die Oder der Grenzfluß

Als früheste programmatische Äußerung in diese Richtung macht Gehrke eine Arbeit des Geistlichen und Politikers Hugo Kollataj aus, der 1808 die Oder-Neiße-Grenze als künftige Grenze Polens nannte und bei dem bereits die wesentlichen Elemente des Westgedankens ausgebildet waren. Schlesien sollte zu Polen gehören, da es historisch polnisch sei, außerdem generell alles Land östlich der Oder, weil die gesamte Bevölkerung dort polnisch sei und dazu noch Ost- und Westpreußen, da es dort angeblich eine litauisch-polnische Mischbevölkerung gebe. Deutsche aber könne man dort nicht suchen, "wo es keine gibt und niemals welche gab." Um genau diese Behauptungen sollte der Westgedanke künftig vorwiegend kreisen. Dazu gesellte sich eine charakteristische politische Komponente. Aus eigener Kraft konnte Polen solche Pläne nicht realisieren und deshalb fehlte schon bei Kollataj nicht der Appell an eine Entscheidung der Großmächte: Napoleon sollte es damals sein, der dem neuen Polen seine Wünsche erfüllte.

Nun dachte Napoleon ebensowenig wie andere Staatsmänner des 19. Jahrhunderts daran, auf so etwas einzugehen. Polen geriet samt seinem neu entwickelten Nationalismus für weitere hundert Jahre zwischen die Räder der Großmächte. Die Aufstände gegen Rußland blieben erfolglos. Auch alle Versuche scheiterten, die Autorität der Westmächte für die polnische Sache einzuspannen. Es gab daher Zeit, den Westgedanken in Ruhe weiter zu entwickeln. Gehrke beschreibt ausgiebig die innerpolnische Diskussion.

Waclaw Nalkowski und Eugeniusz Romer etwa lieferten seit den 1880er Jahren neue geographische Argumente und brachten originelle Gedanken in die Diskussion ein. So behaupteten sie, daß alle Flüsse bis zur Oder ihre großen Zuflüsse angeblich nur von Osten erhielten und deshalb als Teil einer einzigen großen geographisch-politischen Struktur zu sehen seien. Da wurde die Oder zum natürlichen Grenzfluß. Später wurde auch das angeblich ähnliche Klima zwischen der Oder und dem Dnjepr als verbindendes Element angeführt. Diese Gedanken kehrten in den zwanziger Jahren nicht nur in den Arbeiten des polnischen Generalstabsoffiziers Baginski fast wortwörtlich wieder. Sie deuteten vielmehr auf einen neuen Trend hin: Der Westgedanke und der Plan einer polnischen Ostexpansion waren bisher unterschiedlich begründet worden. Es hatte von den historisch argumentierenden "Ostlern" auch Kritik an den haltlosen Argumenten des Westgedankens und den damit verbundenen Vertreibungsplänen an Deutschen und Juden gegeben.

Nun begann beides im neuen Konzept eines gigantischen, polnischen "Dritten Europa" zu verschmelzen, das von Berlin bis Borodino und von Riga bis Odessa reichen sollte. Autonomie für Minderheiten war dort nicht vorgesehen. Die Ukrainer, Litauer und Weißrussen sollten polonisiert werden, die Deutschen und die Juden waren zu vertreiben. In diesem geistigen Umfeld entstand dann der Madagaskar-Plan, jene "ursprünglich polnische Idee einer Teufelsinsel für die Juden" (Shlomo Aronson). Dieses Konzept wurde erst nach Neugründung des polnischen Staates vollständig entwickelt, aber schon nach den Verhandlungen von Versailles seufzte der italienische Außenminister Sforza, wenn es nach der polnischen Delegation gegangen wäre, so wäre "halb Europa ehemals polnisch gewesen und hätte wieder polnisch werden müssen."

Parallel zur ideologischen Verfestigung wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt über politische Konstellationen nachgedacht, in deren Rahmen dies alles verwirklicht werden konnte. Daß dazu eine Erschütterung der internationalen Politik durch einen großen Krieg nötig war, wurde in den entsprechenden politischen Zirkeln Polens bald Allgemeingut. Gestritten wurde aber darüber, ob die polnische Unabhängigkeit besser im Rahmen einer russischen Niederlage gegen Deutschland realisiert werden und Polen sich dann später gegen den Westen wenden sollte, oder ob man mit einer Spekulation auf einen russischen Sieg besser fuhr. Danach sei zuerst unter russischer Protektion der Westgedanke zu verwirklichen, und man könne sich dann später, dank der polnischen "kulturellen Überlegenheit" gegenüber den anderen Völkern dort, wieder gegen den Osten orientieren. Roman Dmowski, der Gründer der Nationaldemokraten, vertrat letzteres. Josef Pilsudski, der Sozialist und spätere Diktator, neigte eher zu einem primär rußlandfeindlichen Kurs in Anlehnung an die Mittelmächte, auf deren Seite er im Krieg auch kämpfte. Am Ende behielt Pilsudski mit seiner Prognose vom Juni 1914 recht, Rußland werde von den Mittelmächten geschlagen werden, die danach ihrerseits gegen die Westmächte verlieren würden. Er stand 1918 bereit, die Macht zu ergreifen.

Pläne zum Westgedanken waren nicht geheim

Verblüffend bleibt, daß diese Absichten in aller Öffentlichkeit verkündet werden konnten. Die von Gehrke zitierten Autoren agitierten nicht in Hinterzimmern, sondern publizierten in angesehenen Zeitungen und Verlagen. Sie hatten in der Regel eine respektable Stellung. Männer wie Wojciech Korfanty saßen gar im deutschen Reichstag. Ihre Pläne waren nicht geheim. Sie fanden dennoch nur ein gewisses Echo in den "Polenspiegeln", mit denen die deutsche Öffentlichkeit durch Zitate aus der polnischen Presse auf den dort erhobenen Anspruch auf weite Teile Deutschlands aufmerksam gemacht werden sollte. Das gelang aber nicht. Als im Frühwinter 1918 der polnische Eroberungsversuch mit den Aufständen in Posen, Westpreußen und Oberschlesien seinen Anfang nahm und nur teilweise abgewehrt werden konnte, wurde das politische Deutschland erst jetzt auf die Gefahr aufmerksam, wie Gehrke ausführt. Materiell wie ideell traf dieser Angriff Deutschland, das sich eben noch auf einer Stufe mit den Weltmächten gewähnt hatte.

Gehrke geht nur am Rand der Frage nach, ob die Ideologen des Westgedankens an ihre eigenen Behauptungen glaubten. Angesichts der widersprüchlichen und haltlosen Argumente könnte dies bezweifelt werden. Andererseits formulieren manche Zitate einen Haß, der Ilja Ehrenburgs antideutschen Kampfschriften in nichts nachsteht und auch die ruhigeren Passagen hinterlassen oft den Eindruck, manch polnischer Autor habe den eigenen Phantasien geglaubt. Jan Kowalczyk zum Beispiel rechnete in einer 1917 in Kopenhagen erschienenen Schrift die Zahl der Deutschen in Ostpreußen auf dreihunderttausend herunter, die er dann als "überflüssig" bezeichnete. Es sei also deutlich, daß die deutschen (!) Bevölkerungsangaben "künstlich vermehrt" seien. In einer Veröffentlichung gab wenigstens Roman Dmowski zu, daß in Wahrheit selbst Oberschlesien und Westpreußen mehrheitlich deutsch waren. Das hinderte ihn dennoch nicht daran, in Versailles beide Provinzen und zudem noch Ostpreußen für Polen zu verlangen - unter Vorlage anderer, frei erfundener Zahlen. Als die Alliierten zur Kontrolle teilweise Volksabstimmungen verlangten, war sein Ärger dementsprechend groß. Militanter Antisemit, der er war, schrieb er diese Entwicklung einer "kolossalen Zunahme des jüdischen Einflusses" zu. Folgerichtig legte die polnische Regierung dann im Juli 1920 gegen das Abstimmungsergebnis von Allenstein Protest ein, obwohl dort unter internationaler Aufsicht nicht weniger als 97,5 Prozent der Bevölkerung für Deutschland gestimmt hatten.

Gehrke beendet seine Darstellung leider mit dem Jahr 1919 und gibt nur einen kurzen Ausblick auf die weiteren Ereignisse. Eine vergleichbar dichte Untersuchung des polnischen Westgedankens für die Zwischenkriegszeit bleibt noch zu leisten. Daß er weiter wirksam blieb, zeigt nicht nur die unverdrossen ansteigende Menge an entsprechenden Äußerungen und Veröffentlichungen polnischer Politiker. Das zeigen auch die Generalstabsgespräche zwischen Polen und Frankreich, in denen ein Szenario verabredet wurde, das eine überraschende Besetzung Ostpreußens und Danzigs mit einer anschließenden Offensive gegen Schlesien vorsah. Auch jetzt blieb Polen aber auf günstige internationale Konstellationen angewiesen. "Zweimal im Jahr" fragte Pilsudski während seiner Zeit als Diktator bei den Westmächten an, ob sie jetzt einen solchen Schlag gegen die Weimarer Republik billigen würden, wie sich der englische Chefdiplomat Robert Vansittart erinnerte.

Roland Gehrke hat einen wichtigen Beitrag zur Zeitgeschichte geliefert. Berücksichtigt man den Westgedanken in seiner ganzen Dimension, dann wird die radikale Entdeutschungspolitik der Republik Polen nach 1919 verständlicher, ebenso wie die ablehnende Haltung der polnischen Regierung gegenüber den deutschen Angeboten von 1938/39 einer wechselseitigen Anerkennung der bestehenden Grenzen.

Fototext: Pilsudski und Goebbels 1934 in Polen: Großpolen von Berlin bis Borodino fest im Visier

Roland Gehrke: Der polnische Westgedanke bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staates nach Ende des Ersten Weltkrieges.Genese und Begründung polnischer Gebietsansprüche gegenüber Deutschland im Zeitalter des europäischen Nationalismus. Verlag Herder-Institut, Marburg 2001, 434 Seiten, 36 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen