© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Kolumne
Rückbindung
Klaus Hornung

Ebenso traurig und erschreckend wie die Bluttat von Erfurt selbst erscheint mir vieles bei den öffentlichen Reaktionen darauf. Gewiß, die deutsche Spaßgesellschaft ist tief erschrocken: das kann es nun doch wohl nicht sein, was wir unter dem "westlichen Zivilisationsmodell" (Gerhard Schröder) erstehen, doch die Art von Betroffenheitsritualen kennen wir nun seit den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen 1992. Gerade die verbreitete Hilflosigkeit und Vordergründigkeit zur "Erklärung" der Gewalttat ist selbst symptomatisch. Nicht nur, daß ein solches Ereignis sogleich wieder in den Wahlkampf gezerrt wird, auch die zumeist technokratischen Rezepte sagen viel über diese unsere Gesellschaft aus.

Diese zutiefst säkularisierte deutsche Gesellschaft lügt sich gerade angesichts solcher Taten zumeist selbst in die Tasche. Die tieferen geistigen, religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Ursachen werden selten erkannt und benannt. Man hört zum Beispiel kaum etwas von Selbstkritik aus jener 68er Bewegung, die die Parolen der individuellen "Selbstverwirklichung" und der "magischen Freiheit" (Theodor Wilhelm) der "Emanzipation" in die Gesellschaft schleuderte, hochmütig legitimiert als "Demokratisierung". Wer wagt schon zu erkennen und zu benennen, daß sich in unserem Land mancherlei Verwahrlosungs- und Gewalterscheinungen schon seit Jahrzehnten ausbreiten - ein Land, das fast nur noch Rechte, aber keine Pflichten mehr kennen will, gezeichnet von Liberalitäts-Bequemlichkeit und Konsum-Vergötzung, Verächtlichmachung des Religiösen und kalter neoliberaler Ellbogenmentalität, die jeden Tag auf den Sraßen hautnah zu erleben ist. Längst ist deutlich, daß Selbstverwirklichung Lebenssinn eben nicht gewinnt, sondern zerstört - sowohl individuell wie gemeinschaftlich, daß man auf das Gemeinwesen und seine "Identität" eben nicht verzichten kann wie auf ein schmutziges Hemd.

Noch verbeißt sich die bildungspolitische Nachhut der 68er-Generation (wie der Rheinische Merkur zu Recht schreibt) in die Abwehr aller Wertbezogenheit und streitet gegen Religionsunterricht und das Kreuz in den Schulen. Was muß eigentlich noch geschehen, damit man in Deutschland begreift, daß es ohne religio, die Rückbindung unseres Daseins an die Kraft der Transzendenz, ohne die Verantwortung, "seines Bruders Hüter zu sein", wie die Bibel sagt, eben nicht geht, weder personal noch sozial. Erfurt setzt ein Zeichen nicht für vordergründigen Aktionismus, sondern für das "In-sich-gehen", die tiefere Besinnung auf das Wesentliche unseres Lebens.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung ist Politikwissenschaftler und Präsident des Studienzentrums Weikersheim


 
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