© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
"Die Königin von England"
Frankreich: Präsident Chirac sieht sich als Retter der Republik / Raffarin zum Premier ernannt / Parlamentswahl als Chance für die Linken
Charles Brant

Nach zwei Wochen hysterischer Stimmungsmache gegen Jean-Marie Le Pen wurde der franzö-sische Präsident mit einem Wahlergebnis in seinem Amt bestätigt, wie man es sonst nur aus kommunistischen Ländern und den Pseudo-Demokratien der Dritten Welt kennt: Jacques Chirac hat das Wunder vollbracht, im zweiten Wahlgang 81,96 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen, nachdem er in der ersten Runde ein überaus blamables Ergebnis von unter zwanzig Prozent erzielt hatte.

Als am Sonntagabend das Ergebnis bekanntgegeben wurde, erhob sich ein Siegesgeschrei sondergleichen über das Land. Auf dem Pariser Place de la Bastille feierten die Sympathisanten der extremen Linken. Im Takt afrikanischer Buschtrommeln wurden Trikoloren, algerische, marokkanische und rote KP-Fahnen geschwungen, dazu wurde eine Le-Pen-Puppe verbrannt. Chirac hielt von seinem Hauptquartier aus eine kurze Rede. Danach ließ er sich mit seiner Ehefrau Bernadette in einem Regierungswagen zum Place de la République chauffieren, wo er sich - in einer Pose à la de Gaulle - von seinen Anhängern als Retter der Republik bejubeln ließ.

Die traute Eintracht war von kurzer Dauer. Im Fernsehen und auf der Straße wurde das "republikanische Plebiszit" enthusiastisch begrüßt - sobald jedoch die Frage der Bedeutung von Chiracs Sieg aufkam, herrschte schnell wieder die gewohnte Kakophonie. Die Linke, die sich in Rekordzeit von Lionel Jospins vernichtender Niederlage im ersten Wahlgang erholt hatte, erklärte, sie habe mit ihrer Front "gegen den Haß" Chiracs Wahlkampf für die zweite Runde geführt. Daher sei dem wiedergewählten Präsidenten sei nur ein einziges politisches Mandat erteilt worden: den "republikanischen Werten" zum Triumph zu verhelfen. Sozialisten (PS), Kommunisten und Grüne sprechen damit Chirac das Recht ab, Regierungsziele zu bestimmen. Ihrer Meinung nach werden erst die Parlamentswahlen im Juni darüber entscheiden, wer dieses Recht zukünftig für sich in Anspruch nehmen darf.

Die Fünfte Republik befindet sich somit in einer historisch beispiellosen Situation. Ihre politische Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit ist gewissermaßen aufgehoben, bis die Wahlen am 19. Juni in ihre letzte Runde gehen. Der Linken bietet sich eine günstige Gelegenheit, sich für ihre Niederlage zu rächen: Die Trotzkisten haben bereits unter Beweis gestellt, daß sie entschlossen sind, den "Druck" auf den Straßen aufrechtzuerhalten.

Am Montagmittag empfing Chirac Jospin, um dessen Rücktritt und den seiner Regierung entgegenzunehmen. Zum selben Zeitpunkt ernannte er einen Nachfolger. Er überging Nicolas Sakorzy, den ehrgeizigen Bürgermeister von Neuilly, und beauftragte statt dessen Jean-Pierre Raffarin mit der Bildung einer neuen Regierung. Der 53jährige Raffarin ist Senator von Vienne und Vorsitzender des Regionalrates von Poitou-Charente. Der Parteivize der Démocratie Libérale (DL) gilt als Anhänger von Ex-Präsident Valéry Giscard d'Estaing (UDF), hat Chirac aber seit seinem Amtsantritt 1995 die Stange gehalten und LD-Chef Alain Madelin so brüskiert. Ungewöhnlich an Raffarin ist, daß er weder der Verwaltungshochschule ENA noch der Pariser Klüngelei entstammt, sondern ein Provinzler ist. Unter Premier Alain Juppé war Raffarin von 1995 bis 1997 Handelsminister. In einem vor kurzem veröffentlichten Essay "La nouvelle gouvernance" zeigte Raffarin sich als Befürworter der Dezentralisation - eines Regierungsstils "aus nächster Nähe".

Mit der Ernennung Raffarins hat Chirac seine Entschlossenheit signalisiert, alle verfügbaren Kräfte um sich zu sammeln und auf Pragmatismus zu setzen -etwas anderes bleibt ihm auch gar nicht übrig. Bis zum 19. Juni verfügt er über eine begrenzte Manövrierfähigkeit und muß versuchen, dem Grollen des Volkes Rechnung zu tragen, ohne die Linke vor den Kopf zu stoßen. Ohne Nationalversammlung wird die neue Regierung per Dekret regieren müssen - und dabei bemüht sein, eine positive Dynamik zugunsten des Präsidenten zu schaffen.

Im Moment allerdings scheint die Linke die Dynamik auf ihrer Seite zu haben, denn sie war es, die gegen Le Pen mobilisierte: Schulkinder, Gymnasiasten und Studenten, sowie flammende Stellungnahmen von Künstlern, Intellektuellen und Fußballstars. Auch sämtliche religiöse Autoritäten oder der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Baron Séllières, wollten da nicht zurückstehen.

Der Erfolg dieser Taktik geht hauptsächlich auf das Konto der trotzkistischen Netzwerke, deren Marsch durch die Institutionen sogar bis in die Chefetagen manches Unternehmens geführt hat. Le Pen wird dabei als Vogelscheuche und als Beute zugleich eingesetzt, um die bürgerliche Rechte einmal mehr zu instrumentalisieren. Letztere hat sich mittlerweile völlig im Spinnennetz der "republikanischen Werte" - und der damit einhergehenden Verbote - verfangen. Jeder einzelne von ihnen hat nun jeglicher Annäherung an Le Pens Front National abgeschworen. Die Linke hat hingegen die Zügel wieder fest in die Hand genommen. Sie ist fest entschlossen, ihre Macht bei den Parlamentswahlen zurückzuerobern. Sollte ihr dies gelingen, wird sie Chirac zu einem Gulliver in Brobdignag (dem Land der Riesen) schrumpfen - oder, wie manche ihrer Sprecher treffend geäußert haben, zur "Königin von England" machen.

Ex-Minister Jack Lang (PS) hat schon betont, Chirac sei lediglich "dem Gesetz nach" französischer Präsident. Die Linke betont die Legitimitätsnot eines Präsidenten, der mit "republikanischem Plebiszit" wiedergewählt wurde. Neun Jahre der Kohabitation haben dem mächtigen Präsidentenamt beträchtlich geschadet. Die Ereignisse der letzten Wochen werden es noch weiter schwächen. Wohin diese Entwicklung führen wird, ist noch nicht abzusehen. Manche träumen von einer Rückkehr zur Vierten Republik (ohne starken Präsidenten), andere prophezeien den Anbruch der Sechsten.

"Republikanisches Plebiszit" hin oder her - fest steht, daß Le Pen im zweiten Durchgang immer noch sechs Millionen Stimmen (18,4 Prozent) erhielt. Auch andere Protestwähler, immerhin die Hälfte der ersten Runde, lassen sich ebenfalls nicht einfach unter den Tisch kehren. Die Vertreter der politischen Klasse schwören, den Franzosen in Zukunft besser zuhören zu wollen. Daß das leere Worte sind, zeigen die gelehrten soziologischen Traktate, die sich der Dialektik zwischen dem "niederen" und dem "hohen Frankreich" widmen. Als wäre nichts gewesen, wird auch der "Sicherheitswahn" der Rechten schon wieder verunglimpft. Die Medien werden beschuldigt, sie hätten Le Pen geholfen, indem sie vor der ersten Wahlrunde den Fall des Paul Voise publik machten. Der betagte Rentner aus Orleans war von einer Bande jugendlicher Immigranten verprügelt und beraubt worden. Als ob das nicht genug wäre, zündeten sie anschließend sein kleines Haus an.

Das französische "System" steht vor dem Kollaps, aber seine Nomenklatura verfügt über die Mittel, es immer wieder zusammenzuschustern. Das "republikanische Plebiszit" war das Paradebeispiel einer solchen Montage.


 
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