© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Pankraz,
Helmut Schelsky und die Invasion der Betreuer

Nach dem Massaker kamen die Schmeißfliegen", notierte Arthur Koestler im spanischen Bürgerkrieg. Nach dem Massaker von Erfurt fielen die Medienvertreter und die Psychologen in die Stadt ein. Es war, als wollten sie sich dafür rächen, daß sie während der eigentlichen Ereignisse nicht dabeigewesen waren. Keine Originalschüsse, keine Leichen, kein hinter Barrikaden verschanzter Täter, den man "psychologisch betreuen" konnte. Alles nur Nachbereitung. Aber diese Nachbereitung wurde nun zur Orgie, zur Medien- und Psycho-Orgie.

Kein Schuljunge und keine Schülerin mehr, denen nicht ein Mikrophon vor den Mund gehalten wurde. Sie sollten sagen, wie sie sich fühlten, wie sich ihre Eltern fühlten, wie sich ihre Freunde und Freundinnen fühlten. Welche Bücher sie läsen. Welche Videos sie sähen. Ob es bei dem Täter nicht doch einen "rechtsradikalen Hintergrund" gegeben habe. Ob sie den Schock je überwinden würden. Ob sie schon in "psychologischer Betreuung" gewesen wären.

Zuletzt wagte sich kaum noch jemand auf die Straße, die Betroffenheit verwandelte sich in Ingrimm. Wenn jemand an der Haustür klingelte, spähte man erst einmal durchs Fenster, ob es nicht ein Medienvertreter oder ein Psychologe wäre. Die Stadt verschanzte sich. Sie wollte endlich ihre Ruhe haben. Sie wollte endlich selber in Ruhe über das Geschehene nachdenken.

In Ermangelung von original Erfurter Auskunfts- und Betreuungsopfern begannen die angereisten Medienvertreter, sich gegenseitig zu befragen bzw. zu betreuen. Wie fühle sich ein ausgebildeter Psychologe angesichts einer solchen Tragödie? Halte er das denn durch? Und könne ein professioneller Medienvertreter bei einer solchen Tragödie überhaupt noch ordentlich seiner Arbeit nachgehen? Habe nicht auch er eine intensive Therapie nötig?

Immerhin, ungewohnt selbstkritische Töne waren da plötzlich zu vernehmen. Ja, sagte ein Medienvertreter, man müsse jetzt mal darüber diskutieren, ob es opportun und menschlich sei, wenn die Medien immer nur das krasseste Bild eines krassen Vorgangs auf Sendung brächten, ob es nicht auch der geschlossene Sarg tue und nicht nur die Leiche in der Blutlache. Und ein Psychologe legte Wert darauf, daß er den Geschockten und Trauernden seine Therapie um Himmels willen nicht aufdränge, daß er sich lediglich "bereithalte" und sehr wohl verstehen könne, wenn man einen Schock erst einmal für sich selber "schweigend verdauen" wolle.

Hier sollte man ansetzen, wenn man Wege finden will, um künftig vernünftiger und menschlicher zu reagieren. Man sollte sich darüber klar sein: Es gibt keine Notwendigkeit, geschweige denn Pflicht, eine Tragödie medial komplett zu verdoppeln und sogar noch künstlich aufzupumpen. So etwas nützt allein dem Medienbesitzer, der damit Auflage respektive Einschaltquote macht und den Profit steigert; der Medienkonsument seinerseits wird weder präzise informiert noch zu guten Affekten geführt, er wird zum miesen Voyeur, bestenfalls zum kopflosen Huhn, das blindlings in der Gegend rumrennt.

Oft ist es lediglich das Ausbleiben guter Information, das Hysterie erzeugt und Anlaß zu "psychologischer Betreuung" liefert. Wobei schon das Reden von der psychologischen "Betreuung" Brechreiz auslöst. Je "informierter" die Menschen werden, je mehr "moderne Medien" sie konsumieren, umso intensiver muß man sie betreuen, "psychologisch betreuen". Die "moderne Informationsgesellschaft" entpuppt sich als Psychiatrie, als Klapsmühle, in der andauernd Damen und Herren in weißen Kitteln herumlaufen und beruhigend auf irgendwelche "Patienten" einreden.

Die betreute Gesellschaft" hieß ein Titel von Helmut Schelsky, unter dem der große Soziologe schon vor Jahr und Tag auf die Konsequenzen einer solchen Entwicklung hingewiesen hat. Der Medienkonsument wird in der Moderne nur insofern freier, als man ihn von jeglicher Verantwortung befreit. Er ist in den Augen der Medienwächter und der Psychologen nicht mehr er selbst, ist vielmehr Objekt dunkler Kräfte, man kann mit ihm nicht mehr auf gleicher Augenhöhe diskutieren, sondern muß ihn "behandeln", eben betreuen, auch und gerade dann, wenn er in schwierige Entscheidungssituationen hineingerät.

Was für Attentate wie das in Erfurt gilt, das gilt dann im Handumdrehen für jegliche Ausnahmesituation, besonders im Bereich der Politik und des Zeitgeistes. Personen, die sich gewissen Strömungen der Politik und des Zeitgeistes verweigern, dagegen Widerstand leisten, geraten in die Gefahr, von den Herrschenden gar nicht mehr als Personen estimiert zu werden. Man macht sie, ob sie es wollen oder nicht, zu Patienten, zu Betreuungsobjekten, so wie die Bolschewiken in ihrer Endphase den General Grigorenko und viele andere Dissidenten zu Betreuungsobjekten machten, ihnen gut zuredeten, sie später mit Elektroschocks traktierten und ihnen bestimmte Säfte einflößten.

So weit ging es in Erfurt selbstverständlich nicht, obschon es eigenartig berührt, daß man die Gymnasiasten, nachdem sie aus der Schule gerettet worden waren, nicht nach Hause gehen ließ, sondern sie - in allerbester Absicht natürlich - kollektiv ins Rathaus verbrachte, um sie dort stundenlang "psychologisch zu betreuen". Und die Medien waren immer dabei. Die Betreuung bestand in vielen Fällen zunächst einmal darin, daß sich die Kinder von Medienvertretern anquatschen lassen mußten und dadurch zusätzlich geschockt wurden.

Vielleicht etwas spät, aber dann umso energischer haben die Erfurter sich nach innen gewendet und sich der Invasion der Schmeißfliegen verschlossen. Nur ganz wenige Ausnahmen genossen den Augenblick unverhoffter Prominenz, faktisch niemand dachte an lukrative Exklusivverträge mit zahlungskräftigen Medien. An sich ein gutes Beispiel für besonnene Bürgerlichkeit.


 
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