© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002

 
Blickfeld Ferner Osten
Hermann Hesse
Konrad Pfinke

Viele deutsche Dichter haben sich, zumal im zwanzigsten Jahrhundert, mit den geistigen Kulturen Indiens und Chinas befaßt, aber keiner tat es so intensiv wie Hermann Hesse.

Sein "Siddharta", die bewegende Auseinandersetzung mit der Lehre des Buddha, gehört immer noch zu den beliebtesten Büchern der deutschen Literatur, ja der Weltliteratur. Daß es auch in Indien wohlwollend aufgenommen und in zwölf indische Sprachen übersetzt wurde, spricht für den einzigartigen Rang Hesses. Im Jubiläumsjahr seines 125. Geburtstags erschien nun, nach dem Sammelband "Aus Indien" und der Textsammlung zum "Siddharta", eine neugeordnete Kollektion auserlesener Lesestücke, die die Beziehung des Dichters zur Welt des Fernen Ostens repräsentativ dokumentieren, mag auch der Kenner manch kleinen Text vermissen. Prosa und Poesie, Märchen und Legende, Essays und Literaturempfehlungen verbinden sich zu einem faszinierenden Panorama, das vom "Siddharta" über erste Erzählungen bis in späte Betrachtungen reicht. Schon die frühen, sinnsuchenden Texte bekunden Hesses zutiefst humanen Versuch, die östlichen Weisheitslehren mit dem christlichen Erbe zu einer sehr persönlichen Weltanschauung zu verbinden. Kehrte er auch im Jahre 191 1 enttäuscht von seiner Asienfahrt zurück, so besann er sich bis zu seinem Lebensende auf die schriftlichen Dokumente der großen Lehrer und Denker. "Der Inder sagt Atman. Der Chinese sagt Tao. Der Christ sagt Gnade" - mit diesem Kernsatz hat Hesse seine kulturverbindende Philosophie auf den Punkt gebracht. Sein Verdienst bestand nicht zuletzt darin, der Bhagavadgita wie den Upanishaden, den Reden des Buddha wie den Lehren des Lao Tse das verbindend Gültige abzugewinnen.

Wer sich heute als Europäer mit den fremden Kulturen befaßt, bekommt mit Hesses klug abwägenden, niemals dozierenden Betrachtungen einen zeitlosen Wegweiser an die Hand, der nicht mit dem Gewaber der Esoterik verwechselt werden darf. Auch deswegen gehört das Buch zu einer der bemerkenswertesten Neuerscheinungen des Hesse-Jahres.

Hermann Hesse: Blick nach dem Fernen Osten. Erzählungen, Legenden, Gedichte und Betrachtungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002, 486 Seiten, 24,80 Euro


 
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