© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/02 10. Mai 2002


Das Eigene erwerben
von Hans - Georg Meier-Stein

Die Bildungsidee des deutschen Idealismus und der Neuhumanismus hatten entscheidend mitgewirkt, jene Voraussetzungen zu schaffen, die die Auflösung der alten ständischen Gesellschaft zur Folge hatten, und die politischen und geschichtlichen Bewußtseinsinhalte, Werturteile und Einschätzungen prägten, die zum Selbstverständnis der Bürgertums gehörten und zur Etablierung der neuen bürgerlichen Gesellschaft führten. Die Einflußbereiche des Bürgertums waren die Wirtschaft, die Wissenschaften, Kunst und Literatur als Formen der Bildung und gesellschaftlichen Unterhaltung. Die Moderne, die sich der humanistischen Bildung entäußert hat, kann nicht ermessen, in welch hohem Maß Philosophie, Dichtung und Künste die bürgerliche Mentalität des 19. Jahrhunderts bestimmt haben.

Zu den spezifischen Voraussetzungen der nationalen Willensbildung innerhalb des Bürgertum gehörte auch, daß sich in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongreß die moderne Form des Museums in Deutschland ausbildete. Schinkels "Altes Museum" war das erste öffentliche Museum in Preußen, als solches auch geplant und gebaut worden, und Schinkel projektierte es auch als Institution zur Bildung der Nation.

Das Museum und die Nationalgalerie galten fortan als der Ort, an dem nicht nur das Verständnis für die Kunst, sondern aufgrund der dort zu betrachtenden Landschafts- und Historienmalerei auch das Bewußtsein für die Geschichte und - im Zeitalter des Risorgimente - insbesondere für die nationalo Geschichte entwickelt werden sollte. Im Museum und in der Galerie fand die Geschichte als eine der wesentlichen Erfahrungsdimensionen des Bürgertums, die Macht der Erinnerung, ihren bildhaften Ausdruck. Das Museum und die Galerie präsentierten einen reichhaltigen Schatz an Geschichten, Fabeln, Anekdoten, Handlungsmomenten und die hier vorgestellte Ahnengalerie entsprach ganz der Verehrung des Historischen, wie sie das 19. Jahrhundert in der Nachfolge der Romantik kultivierte.

Museum und Galerie vermittelten also als kulturell einflußreiche Institutionen ein intensives Bildungserlebnis. Mit anderen Worten: Die Vorstellung einer grundlegenden Einheit aller sozialen historischen und geistigen Phänomene in der Nation mußte sich dort besonders nachhaltig entwickeln, wo die Bilder von Caspar David Friedrich, Eduard Gärtner, Adolph Menzel, Anton von Werner, Moritz von Schwind oder Carl von Piloty kunstvoll nebeneinander aufgehängt waren und die Aufmerksamkeit auf historische Kontinuitäten lenkten. Es wären auch die Namen der österreichischen Maler Peter Fendi, Friedrich Gauermann, Carl Schindler, Friedrich Treml oder etwa Ferdinand Georg Waldmüller zu nennen, die mit ihren Genrebildern die typischen Situationen der Biedermeierzeit mit all ihren sentimentalen Eigenarten, aber auch Beengtheiten festgehalten haben. Es sind Lebens- und Charakterbilder der deutschen Nation.

Museum und Galerie wurden beim gebildeten Bürgertum in Deutschland zur festen Größe und zum angemessenen Ort für die Ausbildung der Gedanken zur nationalen Geschichte, der Ort, wo die Nation zum Verständnis ihrer selbst kommt. An der geistigen Ausprägung des nationalen Bewußtsein hatte das Gewicht der Kunst keinen geringen Anteil. Gewiß, patriotische Emotionen allein haben das Interesse des Bürgertums an der Kunst nicht begründet. Richtig ist, daß der Sensualismus und eine romantizistische Grundhaltung das genießerische Vergnügen am Betrachten der Bilder befördert haben. Aber richtig ist genauso, daß die nationale Ergriffenheit mit einer intensiven Sakralisierung der Kunst einherging.

Schon die architektonische Gestaltung von Schinkels "Alten Museum" mit Freitreppe, großen Aufgängen und Rotunde diente dem Vorsatz, die Kunst zu erhöhen und gleichrangig neben Staat und Kirche zu stellen. Die Standortwahl, das Museum neben Schloß und Dom zu bauen, hatte in Berlin wie andernorts symbolische Bedeutung. Aber mit dem "Tempel der Kunst" wurde der nationalen Kunst eine besondere Bedeutung zugemessen. Hierzu haben wohl auch in nicht geringem Maß Franz Krügers große Panoramen mit eindrucksvollen Militärparaden beigetragen: genaue Prospekte eines ästhetisch stimmigen Stadtbildes, glanzvolle Präsentation des Hofstaates, der bewaffneten Macht des Staates und der preußischen Elite aus Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft in auf den Bildern vereinigten Porträts. Kurz: repräsentative Dokumentation mit eindeutigen kulturhistorischen Verweisen und symbolischen Anspielungen auf die preußischen Tugenden und die schöpferische Schaffenskraft dieser preußischen Nation. Auch bekundet das Beieinandersein von Staat und Volk, Regierenden und Regierten, Adel, Bürgertum und gemeinem Mann die Einheit von Volk und Herrscher.

Es lassen sich durchaus Parallelen ziehen zur venezianischen Historienmalerei des Quatrocante, etwa Gentile Bellinis "Prozession auf der Piazza San Marco" (1496) mit seiner Darstellung prunkvollen Zeremoniells. Venezianische Identität spricht aus solchen Bildern, die nach dem Verständnis der Führungsschicht visuelle Beweiskraft hatten und die Überlegenheit des Machtgefüges Venedig zeigten. Der vielfältige Charakter des venezianischen Gemeinwesens wird auf einem Panorama aus Elite und Volk, städtebaulichem Glanz und religiöser Symbolik sichtbar. Mit dem gleichen nationalen Pathos malte Franz Krüger seine "Huldigung an Friedrich Wilhelm IV."

So hat nun jede Nation ihre Feste, Staatsakte, Paraden, Prozessionen, ihr Zeremoniell, und die Prächtigkeit, mit der diese organisiert und dokumentarisch in der Kunst festgehalten wurden, haben zweifellos den Prozeß der Vergemeinschaftung und des patriotischen Zusammenschlusses befördert. In diesem Zusammenhang ist auf das vielleicht bekannteste Bild von Krüger zu verweisen, den "Preußischen Reitervorposten im Schnee" (1821), das mit dramatischer Szenerie an heroische Zeiten erinnert: ein Bild zum Gedächtnis derjenigen, die bei stürmischem Wind und in erbarmungsloser Kälte in Erwartung schrecklicher Kämpfe für die Nation ausgeharrt hatten, für ihr Vaterland gelitten, gefroren haben, gestorben sind. Ein Bild, das daran gemahnt, die Helden und Opfer des Krieges nicht zu vergessen.

Insbesondere in der Malerei von Stadtmotiven drückt sich der patriotische Stolz aus, zeigt doch die Architekturmalerei die besonderen Leistungen der Nation. Canalette ist mit seinen venezianischen Stadtansichten den Niederländern gefolgt. Seine Darstellungen von Plätzen, Gassen, Kanälen, seine Veduten von San Marco und dem Canale Grande mit vorbeiziehenden Gondeln und Kähnen, an der Mole festgezurrten Schiffen und den Passanten, vom Markusplatz und Dogenpalast schildern venezianisches Leben mit seiner ganzen pittoresken Eigenart und prägten den "Mythos Venedig" ebenso wie seine Darstellungen glanzvoller Höhepunkte venezianischer Geschichte. Die eigentümliche Mischung aus dokumentarischer Genauigkeit und Prägnanz einerseits und romantischer Ästhetik andererseits, mit der Canalette in seinen Verduten auf das verweist, was die Nation an Größe in der Geschichte vermocht hatte, zeichnet auch die zeitgenössische Ruinenmalerie aus, die auf ein vergangenes glorioses Zeitalter der Nation verweist. Und was liegt näher, als von hier aus eine Linie zu ziehen zur deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts. Die Befreiungskriege, die Romantik, sogar das Biedermeier gebieten eine Rückbesinnung auf die Nation und dies, in Ansichten ihrer Monumente mitzuteilen.

Die Namen von Friedrich Schinkel und Eduard Gärtner sind zu nennen. Gärtner lebte in den Jahren der Befreiungskriege in Berlin und seine städtebaulichen Ensembles von Berliner Straßen, Plätzen und Gebäuden mit dem ihnen eigenen romantischen Licht wurden schon mit Canalette verglichen. Alles hat in diesen Darstellungen des biedermeierlichen Preußen seine historische Bestimmung. So werden die Reichtümer der Teile und die Harmonie des Ganzen gezeigt. Historische Gegenstände (wie Architektur, Kostüme, Accessoires) bekommen wertansetzende Akzente und Verbindlichkeiten: Besondere Verbundenheiten, Idealisierungen, Ikonisierungen, Repräsentationsbedürfnisse, genealogische Herkunftsverweise, Machtinteressen, Werthaftigkeiten, auch Neuentwürfe werden damit artikuliert.

Auch in der Landschaftsmalerei begannen nationale Gedanken zu reifen. Mit der niederländischen Malerei hatte die Differenzierung der Landschaftsmalerei in nationale Landschaften begonnen. Im 18. Jahrhundert kam zur klassischen italienischen und zur niederländischen Landschaft auch die Darstellung der Schweizer Landschaft, zum Beispiel bei Joseph Anton Koch. Der Stolz auf die nationale Freiheit tat sich kund in der Darstellung der erhabenen Bergwelt. Landschaft und Idee der Nation rückten zusammen.

In den Landschaftsbildern des frühen 19. Jahrhunderts erscheinen also Natur, Bauwerke und Ruinen als Wahrzeichen und Symbole bestimmter historischer Epochen. Die Nation scheint aus der Natur als ihrem Lebensraum und aus der Geschichte zu wachsen, und Geschichte mutet als eine Art Geistes- und Seelenraum der Nation an.

Besonders deutlich wird dies bei Ludwig Richter sichtbar, der beim deutschen Gemüt so viel Verehrung fand: Landschaft ist Lebensraum des Volkes, Landschaft und Bauwerke künden vom Charakter und Wesen des Volkes. Die Menschen sind bei Richter mit ihren alltäglichen Beschäftigungen ganz in die kleinstädtische oder ländliche Umgebung eingebunden und bilden anmutige Szenerien heimatlichen Lebens.

Gewiß, Richters Bilder muten mitunter treuherzig, naiv und sentimental-idyllisch an, aber sie zeigen einen Menschen, der einen Bezug zu sich selbst zu entfalten vermag und sein Dasein aus der ihm vertrauten heimatlichen Welt entwickelt. Die Menschen leben miteinander, ihre Existenz ist als Fürsorge gefaßt, sie ist begründet in den vertrauten Weisen des Seins mit anderen. Daraus resultieren Verantwortungsbewußtsein, Sicherheit, Gelassenheit, Ruhe. Richter stellt Menschen vor, die - wie Heidegger sagt - "noch das Einfache als ihr erworbenes Eigentum kennen." Und wenn wir im "Feldweg" lesen: "Das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und Großen", dann wissen wir auch, daß Richters kleinbürgerlich-ländliches Genre nicht schlichtweg einförmig und beschränkt ist und biedermeierliches Behagen konserviert, sondern uns die Rätsel des Daseins und die unerschöpfliche Kraft des Einfachen zeigt.

Die Romantik war beseelt von dem Ideal einer Erneuerung der deutschen Kunst mit dem Ziel der Überwindung des höfischen Rokoko und des kalten Klassizismus. Richter geht so weit, die heimatliche Landschaft zur idealen Größe zu erheben, seine Burgen sind patriotische Reminiszenzen an die mittelalterliche Reichsherrlichkeit. Statt antiker Tempel nun die Burg, statt heroischer Gestalten Landvolk aus dem deutschen Alltag.

Und so kann auch die Burgenromantik als Ausdruck nationaler Begeisterung gesehen werden, wie auch die Darstellung mittelalterlicher Kathedralen und gotischer Kirchenruinen mit ihrer Feierlichkeit der Szenerie nicht nur Zeichen der wiedergefundenen Glaubensgewißheit ist, sondern auch manifestiert, daß man sich der geschichtlichen Bedeutung der eigenen nationalen Vergangenheit besann. Bei den Werken von Joseph Anton Koch, Carl Blechen, Ernst Fries, Carl Wilhelm Götzloff, Carl Wagner, Johann Martin von Rohden, Moritz von Schwind, Ernst Ferdinand Oehme, Ludwig Richter und den Gebrüdern Schneider wird dies sichtbar.

Leidenschaftlicher Nationalstolz wird auch in den Werken deutsch-amerikanischer Künstler sichtbar, die zum Teil aus der Düsseldorfer Malerschule hervorgehen und der deutschen Romantik verpflichtet sind. Bei Albert Bierstadt, Frederic Church, Emanuel Gottlieb Leutze und Karl Ferdinand Wimar wird der Akzent auf die majestätische und erhabene Landschaft mit dramatischer Inszenierung gesetzt, um so die Schönheiten der amerikanischen Natur zu verklären.

Darüber hinaus ist die Erforschung der eigenen nationalen Geschichte auch eine wesentliche Voraussetzung für künstlerische Aktivität und einen hohen Grad an Authentizität in der Kunst. Es ist bekannt, daß Adolph Menzel für seine Frideriziana detaillierte historische Studien betrieben hat. Zu einer idealisierenden Salonmalerei hat sich Menzel nicht bereit finden können, in seiner realistischen Malweise gestaltete er historisches Genre aus dem Bürgertum und aus dem Volk. Sein Thema ist die Seinsart der Alltäglichkeit, die Durchschnittlichkeit als existenzialer Charakter.

Mit seinen Darstellungen aus der preußischen Geschichte und dem preußischen Alltag wird dem bürgerlichen Rezipienten seiner Kunst die Zugehörigkeit zu einer historischen Gemeinschaft, das Mitsein als existenziales Konstituens und seine eigene Ortsbestimmung einsichtig. Dokumentarwert sollen deshalb die Bilder bei Anton von Werner bekommen. Mit seiner idealistisch-realistischen Malweise will er der deutschen Kunst die Richtung weisen zu einer monumentalen Gestaltung der Geschichte. Der Moment, von Menzel realistisch gestaltet, wird von Anton von Werner zum Monument erhoben, um ihn für die Nachwelt festzuhalten. Berühmt ist sein Bild "Die Reichsgründung". Die historische Realität wird also durch die Kunst nicht nur intellektuell und sensuell, weil plastisch und farbig, erklärt, sondern auch emotional überhöht, weil sie die dazu nötigen Stimulantien lieferte, und weil das einfühlende Verstehen in die Geschichte scheinbar auch die Teilhabe an deren Vitalität versprach. Kunst wirkte tatsächlich identitätsstiftend.

Im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts mußte dies umso nachhaltiger wirken, als die wohlhabende und gebildete Bourgeoisie mit Literatur und Kunst vertraut war und auch als Kunstmäzen in Erscheinung trat.

 

"Zum Essen" von Ludwig Richter:

Zweimal hat Goethe die deutsche Frau ins Gedächtnis der Weltliteratur geschrieben: als Gretchen im "Faust" und als Lotte in "Die Leiden des jungen Werther". Beide sind keine Mütter, doch auf diese Bestimmung hin tragisch gezeichnet. Unwillkürlich steht dem Betrachter von Ludwig Richters "Zum Essen" die Szene vor Augen, in der Lotte für ihre vielen Geschwister das Brot schneidet. Das ganze neunzehnte Jahrhundert in Deutschland wird von diesem Frauenideal der "züchtigen Hausfrau" (Schiller) geprägt. Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Schon wandern junge Mädchen in die Fabriken und bereiten das vor, was inzwischen als weitgehende Gleichstellung und Gleichmachung der Geschlechter eingetreten ist.

Die biedermeierliche Idylle spiegelt den Willen, etwas festzuhalten, was aufs Höchste bedroht ist."Kitschig" erscheint sie nur dem, der von der verschwundenen Wirklichkeit nichts versteht oder schlicht nichts weiß.

Dr. Hans-Georg Meier-Stein, Jahrgang 1948, studierte Alte und Neuere deutsche Literatur und Geschichte. In der JF schrieb er zuletzt über Erwin Guido Kolbenheyer (JF 16/02).


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