© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/02 17. Mai 2002

 
Pankraz,
Thomas Mann und das nichtbestandene Abitur

Der anstößigste, auch lachhafteste Kommentar zu dem Massaker in Erfurt stand in der FAZ, kam aus der Feder einer Soziologin namens Tönnies und führte die Katastrophe striktemang und monokausal auf das gescheiterte Abitur des Attentäters zurück. Das Abitur, so Sibylle Tönnies, sei das Verhängnis der europäischen Neuzeit an sich und überhaupt. Es zerreiße die holden Bande jugendlicher Spontangemeinschaft, teile die Menschheit unerbittlich ein in "oben und unten", also in solche mit und solche ohne Abitur, und es lasse den Abiturlosen nicht einmal den Trost, daß sie für ihre Unterprivilegierung nichts könnten, daß sie daran schuldlos seien.

Früher in den alten Adelsgesellschaften sei es ein bloßes Würfelspiel des Schicksals gewesen, ob man ein "Von" oder ein Bürgerlicher war, heute aber, im Zeitalter des Abiturs, habe gewissermaßen jeder den Adelstitel im Tornister. Wer durchs Abitur rassele, habe sich das selber zuzuschreiben, und es belaste ihn sein Leben lang. Noch Insassen von Irrenhäusern, führt Frau Prof. Tönnies aus, litten darunter, wenn sie kein Abitur hätten. Nach einer vom Anstaltsleiter arrangierten fiktiven Abiturfeier, erzählt sie, seien zwei alte Damen, die bisher kein Abitur gehabt hätten, zwar "verrückt geblieben", hätten sich aber von da ab dennoch "viel wohler" gefühlt.

Tönnies' Klage mündet in ein wortgewaltiges Plädoyer für die vom Abitur befreite "Gesellschaft der Gleichen", in der dann alle endlich auch die gleichen Hosen trügen. Zitat: "Während sich die jungen Herren zu meiner Zeit noch in dunkelblaue Blazer mit goldenen Knöpfen pressen ließen, die ihre Klassenzugehörigkeit markierten, sind heute auch bei Gymnasiasten Hosen modern, deren Schritt in der Kniekehle sitzt - sie haben ihr Vorbild in amerikanischen Gefängnissen, die nur eine einzige Größe führen und Gürtel aus Sicherheitsgründen nicht zulassen."

Schade, daß sich diese amerikanische Gefängnishosen-Mode mit der gürtellosen Einheitsgröße, von Sibylle auch "eine Verneigung vor der Kultur einer Unterschicht mit freiem Selbstbewußtsein" genannt, noch nicht bis nach Erfurt durchgesetzt hat, daß es statt ihrer, was amerikanischen Kulturimport betrifft, zum Zeitpunkt des Massakers nur Killerspiele und Pumpguns gab. So mußte der Killer seine Verneigung vor der Unterschicht mit der Einheitsgröße wohl oder übel als Schießorgie inszenieren, genauer: er mußte seine Lehrer, die ihm den Weg zum Abitur verbaut hatten, mittels Kopfschüssen zur Verneigung zwingen. Glaubt wirklich jemand, daß so etwas ein überzeugendes Argument gegen Abitur- und andere Wissens- und Geistesprüfungen ist?

Kultur braucht keine Einheitsgrößen, am wenigsten gürtellose, sie braucht vielmehr Gürtel aller möglichen Farben und Straffungsgrade, sie braucht Differenzierung und deutliche Privilegierung von Tüchtigkeit, Wissens- und Könnensvorsprung. Und wie anders als durch Prüfungen ließen sich Differenzierung und Privilegierung ermitteln und in Gang setzen? Alle großen Kulturepochen, vom konfuzianischen China bis zum deutschen neunzehnten Jahrhundert mit seinen glanzvollen Universitäten und Berufsschulen, sind Geistesaristokratien gewesen, die ihren Nachwuchs mittels eines ausgefeilten Systems von Prüfungen, Meisterbriefen und akademischen Titeln rekrutierten.

Eliten und Aristokratien, die anders funktionierten, die auf Familiengerechtsamen, erblichen Würden und äußerlichen, meist militärischen Verhaltensritualen beruhten, hatten viel weniger Bestand und kulturelle Prägekraft, es sei denn, sie verbündeten sich (was meistens geschah) mit den durch Wissensprüfungen legitimierten Geistesaristokratien. Die mittelalterlichen Lehns- und Adelsreiche hätten keinen Tag überleben können ohne das Mitwirken der gelehrten Mönche und der Doktoren von der Sorbonne, aus Oxford, Bologna und Köln.

Und am Anfang stand immer das Abitur, auch wenn es noch nicht so hieß. Es war das Eingangstor zur großen Welt des Geistes, das erste Sieb, durch dessen Schütteln eine allererste Übersicht über die vorhandenen Potentiale möglich wurde. Wer es nicht schaffte, mußte deshalb aber noch lange nicht verzweifeln, denn die meisten Prüfungssysteme waren klug genug, stets mehrere Bildungswege zu eröffnen, "duale" Alternativen anzubieten.

Es ist einfach nicht wahr, wenn Sibylle Tönnies es so hinstellt, als würden mit dem Abitur die Weichen des einzelnen Geisteseleven ein für allemal auf Freie Fahrt bzw. Stop gestellt, als würde hier zur Unzeit Schicksal gespielt und am laufenden Band hochgemutes Lebensplanen zerstört. Der vielleicht beste (und zweifellos einer der gelehrtesten) deutschen Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts, Thomas Mann, hatte kein Abitur, was ihn nicht daran hinderte, mit Humanisten und Ägyptologen von gleich zu gleich zu parlieren und den "Doktor Faustus", die "Lotte in Weimar" und die Josefsromane zu schreiben.

Thomas Mann verachtete, ja, haßte einige seiner Lübecker Gymnasialpauker nicht weniger, als Robert Steinhäuser wohl seine Erfurter Mathematik-, Geschichts- und Englischlehrer gehaßt hat. Daß er ihnen dennoch nicht gleich ans Leben wollte, wird sich nicht zuletzt dem Umstand verdankt haben, daß der Lübecker noch ganz fest in einer kulturellen Tradition stand, die nicht an den elementaren Tugendgeboten rütteln ließ und ihren Kindern deren Notwendigkeit glaubhaft zu vermitteln wußte, ob mit oder ohne Abitur.

Daran, an dieser Glaubwürdigkeit, mangelt es heute, weil zahlreichte Eliten auch noch vor der gröbsten Gleichmacherei im Staube liegen, sie anbeten, ihr huldigen, sich gar nicht schnell genug die Einheitshosen der Verbrecherwelt über die fetten oder dürren Hüften ziehen können. Da ist es dann kein Wunder, wenn die Luft sich mit Blei auflädt. Herumballern ist allemal leichter, als ein Abitur zu bestehen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen