© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/02 24. Mai 2002

 
"Ein andauerndes Trauma"
Der Prager Politologe Rudolf Kucera über das Unrecht der Benes-Dekrete, deutsche Politiker und den langen Weg zur Wahrheit
Moritz Schwarz

Herr Professor Kucera, am vergangenen Wochenende sorgte eine zeitgleich gehaltene Rede des tschechischen Ministerpräsidenten Milos Zeman für großen Ärger auf dem Sudetendeutschen Tag in Nürnberg. Zeman hatte davon gesprochen, die Tschechen hätten den Deutschen mit der Vertreibung 1945 nur einen Wunsch erfüllt, nämlich "heim ins Reich" zu kommen. Wie bewerten Sie eine solche Aussage?

Kucera: Nach meiner Meinung waren die Äußerungen unseres Ministerpräsidenten anläßlich seiner Rede in der Gedenkstätte des KZ Theresienstadt und seines Stellvertreters Vladimir Spidla in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung eine Provokation in Richtung des Sudetendeutschen Tages in Nürnberg. Vladimir Spidla zum Beispiel weiß genau, daß alle demokratischen Parteien in Deutschland die Vertreibung als Unrecht beurteilen. Wenn er die Vertreibung eine "Quelle des Friedens" nennt, dann ist das also eine bewußte Provokation. Unrecht kann schließlich keinen Frieden stiften.

Welchen Zweck sollte so eine Provokation haben?

Kucera: Natürlich geht es darum, die anti-tschechischen Ressentiments der Deutschen zu aktivieren, um sich danach als wahrer Schützer der tschechischen Nationalinteressen zu gerieren.

Wozu?

Kucera: Tschechische Politiker nutzen leider sehr geschickt, besonders vor den Parlamentswahlen, die Frage der Benes-Dekrete, um auf der nationalistischen Welle bequem neue Wählerstimmen zu gewinnen.

Sie sind einer der profiliertesten Kritiker der Benes-Dekrete in der Tschechei. Wie lauten Ihre Hauptkritikpunkte?

Kucera: Die Benes-Dekrete, die 1945 vom tschechischen Staatspräsidenten Edvard Benes erlassenen Rechtsverordnungen zur totalen Entrechtung der Sudetendeutschen, verstoßen sowohl gegen die Menschen- wie auch gegen die Bürgerrechte der ehemaligen deutschen Bürger der CSR. Eine international verbindliche Vereinbarung, die Vertreibung verbietet, wurde zwar erst nach den Benes-Dekreten, nämlich 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, mit einer Konvention gegen Genozid und mit der Vereinbarung zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten von Rom 1950 geschaffen. Aber schon die Tradition des Rechtsstaates, auf die sich auch die damalige CSR berief, verbietet Enteignung ohne Ersatz und Vertreibung nur wegen Nationalität und Sprache, so daß mit Recht von einer Verletzung der Menschenrechte gesprochen werden kann. Übrigens traf dieses Unrecht auch viele deutschsprachige Juden in der Tschechoslowakei, die ohne Rücksicht darauf, daß sie zuvor Opfer der Nationalsozialisten waren, als Deutsche behandelten wurden, einfach weil sie deutsch sprachen.

Nicht nur in der Tschechei, auch in Deutschland werden die Benes-Dekrete immer wieder als gerechte Strafe für die Zusammenarbeit vieler Sudetendeutscher mit den Nationalsozialisten betrachtet.

Kucera: Natürlich haben viele Sudetendeutsche aktiv mit den Nationalsozialisten zusammengearbeitet. Und diese hätte man auch nach dem Krieg vor Gericht stellen sollen, um sie nach dem Maß ihrer individuellen Schuld abzuurteilen. Nicht zulässig ist aber eine pauschale Maßnahme des Staates gegen ganze Bevölkerungsgruppen - neben den Deutschen trafen die Benes-Dekrete auch die Ungarn. Es ging in Wirklichkeit weder um Rache für die Unterdrückung der Besatzungszeit,­ noch um eine Maßnahme zur Vorsorge gegen erneute deutsche Ansprüche, sondern einfach um die Schaffung eines "ethnisch sauberen" tschechischen Nationalstaates.

Wenn die Sudetendeutschen in der CSR Bürgerrechte hatten, wie hat man dann ihre Vertreibung gegenüber der eigenen Verfassung legitimiert?

Kucera: Gar nicht. Alles geschah nur auf der Grundlage der Benes-Dekrete und im Jahr 1946 hat dann die Nationalversammlung die Dekrete legitimiert, ohne Rücksicht auf Menschenrechte oder die Verfassung der CSR. Aber schon die Erlassung der Dekrete stand natürlich im Widerspruch zur Verfassung.

Außer der Aufrechterhaltung der Benes-Dekrete kritisieren Sie auch ihren Mißbrauch in der tschechischen Tagespolitik.

Kucera: Ja, denn sie werden in unverantwortlicherweise als eine Art "letzte Bastion" unserer Staatlichkeit dargestellt - ohne sie würde unser Staat angeblich zerfallen und ein Rechtschaos entstehen.

Was meinen Sie genau damit?

Kucera: Sie müssen sich im klaren darüber sein, daß die Benes-Dekrete in unserem Land ein andauerndes Trauma darstellen. Sie sind eine immerwährende Quelle der Furcht davor, daß einmal von deutscher Seite die Rache kommet. Damit hat übrigens auch schon Stalin kalkuliert und gehofft, daß die Tschechen deshalb stets die Russen den Deutschen vorziehen würden. Und so ist es bis heute: lieber ist Karlsbad russisch als deutsch.

Das heißt, die Wahrheit über die Benes-Dekrete anzuerkennen, wäre eine Bedrohung für das tschechische Nationalgefühl?

Kucera: Und noch mehr: Die Benes-Dekrete haben bereits einen mythischen Gehalt, sie existieren wie der Leviathan, und die meisten Tschechen haben das Gefühl, ohne sie wären sie ohne jeden Schutz.

Was wären die Folgen, würden die Benes-Dekrete für ungültig erklärt werden?

Kucera: Nach meiner Meinung ist es ohne weiteres möglich, die Dekrete für ungültig - ex nunc - zu erklären, ohne daß daraus Eigentumsansprüche folgen. Und selbst wenn einige Sudetendeutsche entschädigt werden müßten, dann nicht von privater, sondern nur von staatlicher Seite. Denn das Privateigentum ist seinerseits vor so etwas geschützt.

Die tschechischen Politiker vermitteln aber dem Volk den Eindruck, die Entschädigungsforderungen beträfen das Privateigentum der tschechischen Bürger direkt?

Kucera: Leider ja, die Politiker sagen den Leuten nicht die Wahrheit. Statt Ängste abzubauen, schüren viele tschechische Politiker die Angst der Menschen noch zusätzlich.

Sie haben selbst den Sudetendeutschen Tag in Nürnberg am vergangenen Wochenende besucht. Wie war Ihr Eindruck?

Kucera: Ich habe mich gefreut, zu sehen, mit welcher Freude die Sudetendeutschen auf den Besuch des Vorsitzenden der tschechischen Bischofskonferenz und Erzbischofs von Olmütz, Graubner, reagiert haben, der gekommen war, um als Zeichen der Versöhnung auf dem Sudetendeutschen Tag die Messe zu halten. Einige Leute haben geweint.

Das klingt, verzeihen Sie, etwas unkritisch. Gab es nicht auch Wut oder gar Aggression gegen die Tschechen?

Kucera: Wütend waren die Leute natürlich, etwa über die Äußerungen Zemans, Spidlas oder auch Innenminister Schilys. Revanchismus habe ich aber keinen erlebt. Und Erzbischof Graubner wurde, wie gesagt, herzlich empfangen, während er bei uns zu Hause wegen seines Besuchs in Nürnberg heftigen Angriffen ausgesetzt war.

Wie beurteilen Sie die distanzierte Haltung deutscher Politiker gegenüber den Vertriebenen?

Kucera: Die deutschen Politiker haben sich in der Tat in der Vergangenheit wenig interessiert gegenüber den Belangen der Vertriebenen gezeigt. Die Sudetendeutschen waren von gewissem Interesse für die Politiker in Bayern, von geringem Interesse für die Politiker im übrigen Deutschland und von gar keinem Interesse in Europa. Doch durch Zemans Verteidigung der Vertreibung, die er als "milde Strafe" bezeichnet hatte, und nach der Forderung von Václav Klaus auf Anerkennung der Benes-Dekrete durch die EU ist die sudetendeutsche Frage plötzlich zu einer europäischen Frage geworden.

Auf diesem Umweg ist die sudetendeutsche Frage auch in Deutschland wieder zu einem Thema von gewisser Relevanz geworden, allerdings nur mehr oder wenig widerwillig.

Kucera: Auch in Deutschland hat sich die Situation verändert, nicht zuletzt durch das plötzliche Aufgreifen des Themas Vertreibung in den deutschen Medien. Denken sie nur an die mehrteiligen Fernseh-Dokumentationen zu diesem Thema in ARD und ZDF im vergangenen Jahr oder an die Veröffentlichung der Novelle von Günter Grass, "Im Krebsgang", und die darauffolgende Debatte. Zuvor befand sich die Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa unter dem Deckel der political correctness: Darüber spricht man lieber nicht zu laut, sonst gerät man in Verdacht, "ewiggestrig" zu sein. Heute gibt es eine ganz neue Sensibilität für diesen Teil der Geschichte in Deutschland und kaum ein deutscher Politiker kann es sich heute noch leisten zu sagen, das Thema interessiere ihn nicht.

Wäre ein so unterkühltes bis gespanntes Verhältnis der Politiker zu den Vertriebenen des eigenen Volkes in der Tschechei denkbar?

Kucera: Nein, zweifellos wäre das Anliegen der Vertriebenen ein gesamtnationales Anliegen. Denken Sie nur an die Tschechen, die 1938 aus dem Sudetenland vertrieben wurden, ihr kleiner Verband wurde von jeder tschechischen Regierung tatkräftig unterstützt.

Was hat es mit der Vertreibung von Tschechen aus dem Sudetenland im Jahre 1938, ­ die auch von Otto Schily in seiner Rede auf dem Sudetendeutschen Tag erwähnt wurde, auf sich?

Kucera: 1938 wurden vor allem die tschechischen Staatsbeamten im Sudetenland des Dienstes enthoben, da nach der Angliederung an das Reich eine neue deutsche Verwaltung eingesetzt wurde. Es mußten also nicht alle Tschechen das Sudetenland verlassen, so wie etwa ab 1945 praktisch alle Deutschen die Tschechei verlassen mußten. Und ihr gesamtes Eigentum mußten diese Vertriebenen auch nicht aufgeben.

Dennoch wurden die Leute aber vertrieben?

Kucera: 1938 wurden die meisten - nicht alle - Tschechen gezwungen, zu optieren. Das heißt, sich für das Reich zu entscheiden oder für die Tschechoslowakei. Wer für das Reich optierte, konnte bleiben, wer für die Tschechoslowakei optierte, sollte - mußte aber nicht - gehen. Einige wurden dann allerdings wirklich vertrieben.

Wie viele Tschechen hat das betroffen?

Kucera: Insgesamt wohl 120.000 Personen.

Innenminster Schily wurde auf dem Sudetendeutschen Tag für seine Bemerkung von der Vertreibung der Tschechen 1938 ausgepfiffen. Warum?

Kucera: Die Pläne Benes, die Deutschen aus der Tschechei zu vertreiben, haben natürlich kaum etwas mit der Vertreibung von 1938 zu tun. Es gab solche Pläne auf tschechischer Seite auch schon vor dem Münchner Abkommen 1938, allerdings noch dergestalt, einen Teil der Tschechoslowakei abzutrennen und dorthin einen Teil der Sudetendeutschen auszusiedeln. Daran wird deutlich, daß es Benes tatsächlich immer nur um die Schaffung eines ethnisch reinen Nationalstaates ging. Ganz anders übrigens als Tomas Masaryk, Gründer und erster Präsident der Tschechoslowakei, der die Minderheiten stets in den tschechoslowakischen Staat integrieren wollte.

Dann ist Schily zu Recht ausgebuht worden?

Kucera: Und das nicht nur aus sudetendeutscher Sicht, denn Otto Schily hat offenbar den Inhalt der deutsch-tschechischen Erklärung vergessen, die zwar davon spricht, daß die Ereignisse des Krieges der Vertreibung "den Boden bereiteten", nicht aber davon, daß sie einen kausalen Nexus, also zwingenden Zusammenhang, darstellen.

Das heißt, die viel gepriesene deutsch-tschechische Erklärung funktioniert nach dem Prinzip, Redewendungen zu verwenden, unter denen sich beide Parteien etwas unterschiedliches vorstellen können, was dann als großes Versöhnungswerk verkauft wird.

Kucera: Genau: Scharlatanerie. Man hätte lieber eine echte deutsch-tschechische Aussöhnung betreiben sollen, auch wenn es viel schwieriger gewesen wäre, sie zustande zu bringen, und dann erst eine gemeinsame Erklärung verabschieden sollen. Inzwischen ist die Situation so verfahren, daß die meisten Sudetendeutschen nicht mehr in die Tschechei fahren wollen, weil sie von der bisherigen Aussöhnung enttäuscht sind.

So mancher deutsche Politiker hofft auf eine biologische Lösung: Wenn erst mal alle Vertriebenen gestorben sind, gibt es das Problem nicht mehr.

Kucera: Das ist eine falsche Hoffnung, auch auf der tschechischen Seite. Denn es hat sich gezeigt, daß für uns Tschechen das Problem bestehen bleibt, denn auch wenn die Sudetendeutsche alle tot wären, bleiben die Benes-Dekrete ein belastender Teil unserer Vergangenheit, dem wir uns eines Tages werden stellen müssen, so wie Ihr Deutschen euch Auschwitz stellen mußtet. Wir haben jetzt zwar einen fast ethnisch reinen Nationalstaat, aber wir müssen reflektieren, um welchen Preis: um die Vertreibung Millionen unschuldiger Menschen und um die definitive Eröffnung des Weges in die kommunistische Diktatur.

Werden Sie für Ihren Einsatz für die Rechte der Sudetendeutschen in Ihrer Heimat nicht stark angefeindet?

Kucera: Ja, aber da ich an der Universität arbeite und viele meiner Studenten meine Position teilen, bin ich in meinem unmittelbaren Umfeld etwas geschützt. Ich lasse mich nicht in irgendeine Nationalfront gegen Sude-tendeutsche oder sogar gegen die EU eingliedern und stehe fest zu den Prinzipien der universellen Menschen- und Bürgerrechte sowie den Werteprinzipien der europäischen Einigung.

Warum setzten Sie sich als Tscheche überhaupt so für die Rechte der Sudetendeutschen ein?

Kucera: Ich bin sehr empfindlich gegenüber Grausamkeiten wie der Unterdrückung, Entrechtung oder Vernichtung eines ganzen Volkes. Ich vermeide jede Kollektivschuld. Das betrifft nicht nur den Holocaust, sondern auch die Vertreibung der Deutschen.

Auch die deutsche Okkupation der Tschechei durch die Nationalsozialisten?

Kucera: Natürlich, auch unser Volk war damals tödlich gefährdet.

Die Tschechen wußten zudem, daß sie nicht nur für die Zeit des Krieges okkupiert waren, sondern in Hitlers neuem Europa für alle Zeiten unterdrückt bleiben würden.

Kucera: Das ist natürlich ein wesentlicher Punkt. Dennoch ist die Version von der Vertreibung als schlichte Antwort auf die Repression der Besatzungszeit nicht zu halten. Ich bin einfach der Ansicht, daß keine historische Entschuldigung uns vor der Auseinandersetzung mit den dunklen Stellen in unserer Vergangenheit schützt. Sehen Sie, wir Tschechen haben im Kommunismus alles verloren, unser Volk braucht eine neue Werteorientierungen, eine neue Offenheit für Europa. Um diese zu entwickeln ist die Auseinandersetzung mit dem Unrecht der Vertreibung für uns Tschechen so ausgesprochen wichtig.

 

Prof. Dr. Rudolf Kucera geboren 1947 in Prag. Er studierte Philosophie und Geschichte und war an der tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften tätig, bis er 1978 wegen Mitarbeit an der Charta 77 entlassen wurde. Elf Jahre arbeitete er als Bauarbeiter, bevor er nach der "samtenen Revolution" 1989 an die Universität zurückkehren konnte. Heute ist er Politolge - eine Disziplin, die es in der Tschechei erst seit 1990 gibt - am Institut für politologische Studien der Karlsuniversität Prag.

 

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