© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/02 24. Mai 2002

 
EU-Sonderstatus für Königsberg?
Ostpreußen: Rußland fordert einen geschlossenen Korridor zu seinem Bezirk Kaliningrad / Streit mit Brüssel vorprogrammiert
Carl Gustaf Ströhm

Manchmal kehren gewisse Gespenster der Geschichte unvermutet in die Gegenwart zurück - auch wenn sie mit schlimmen Erfahrungen verbunden sind. So forderten vor dem EU-Rußland-Gipfels am 29. Mai die Moskauer Minister Juri Tschaika (Justiz) und Wladimir Ruschajlo (Inneres) die Errichtung eines "geschlossenen Korridors" zwischen der Russischen Förderation und Weißrußland einerseits und dem "Oblast Kaliningrad", also dem nördlichen Ostpreußen mit dem einstmaligen Königsberg. Die EU lehnt einen "Korridor" mit Hinweis auf das Schengener Abkommen - das Zoll- und Grenzkontrollen nur innerhalb der EU aufhebt - ab.

Litauen und Polen werden nach 2004 EU-Mitglieder. Dann würde sich um das russische Nordostpreußen, wo etwa eine Million Russen in bitterer Armut leben, die Schengen-Grenze erstrecken. Die einzige Landverbindung zu "Mütterchen Rußland" - über litauisches Gebiet - würde sich schließen. Königsberg wäre dann nur auf dem Seeweg über die Ostsee oder allenfalls noch auf dem Luftweg ungehindert zugänglich.

Doch sogar der von russischer Seite geforderte "geschlossene Korridor" - der Begriff impliziert, daß ein solcher Korridor über litauisches, vielleicht auch über polnisches Gebiet führen müßte und exterritorial wäre - könnte nicht garantieren, daß keine Asylanten oder sonstige Glücksritter (das Gebiet hat die höchste Kriminalitätsrate Rußlands!) in hellen Scharen aus dem "Korridor" ausscheren und über die grüne Korridor-Grenze nach "Schengen-Land" einsickern. Selbst wenn man alle übrigen problematischen Aspekte eines solchen Korridors beiseite läßt, würde alleine die grenzpolizeiliche Bewachung eines solchen "Schlauches" für die EU und die betroffenen Mitgliedstaaten gewaltige Kosten verursachen - ohne praktisch wirksam zu sein. Wahrscheinlich müßte ein solcher Korridor eine Eisenbahnstrecke und eine Autostraße umfassen - dazu noch rechts und links ein Geländestreifen. Das aber würde bedeuten: Litauen zum Beispiel müßte als "Preis" für einen Beitritt zur EU einen Teil seines Territoriums an Rußland abtreten und auf jeden Fall auf die Ausübung seiner Souveränität in dieser "Nabelschnur" verzichten. Das würde immense rechtliche, technische und finanzielle Probleme aufwerfen. Die bei Litauen verbliebenen Straßen und Eisenbahnen müßten exterritorialen, geschlossenen Korridor durch Unterführungen kreuzen. Das Staatsgebiet der südlichsten Baltenrepublik wäre somit von Rußland durchschnitten. Die psychologischen, aber auch effektiven Folgen wären unabsehbar.

Trotz wesentlicher Dementis breitet sich in Estland, Lettland und Litauen die Sorge aus, der Westen könne nach Reykjavík die neue Nato-Partnerschaft mit Rußland auslegen, als erfordere es das gemeinsame Interesse des Kampfes gegen den Terrorismus (und als Terroristen gelten in Rußland die Tschetschenen, die vom Westen noch unlängst als Freiheitskämpfer bezeichnet wurden), gewisse Konzessionen an Moskau in der baltischen Frage zu machen. Dazu könnte dann im äußersten Fall auch ein "Korridor" gehören, der die Sicherheitslage der baltischen Staaten schlagartig verschlechtern müßte.

Für das Funktionieren oder Nicht-Funktionieren solcher politischer Korridore gibt es einige Beispiele. Der "polnische Korridor", der nach 1919 im Versailler Friedensvertrag den Zugang Polens zur Ostsee garantieren sollte, trennte das damalige deutsche Ostpreußen und die deutsch gebliebenen Reste Westpreußens vom übrigen Reich. Der Transitverkehr unterlag polnischer Kontrolle, im polnischen Korridor einen deutschen Gegen-Korridor zu schaffen - ähnlich dem "geschlossenen" Modell der russischen Regierung -, dazu kam es nicht. Die Korridor-Frage wurde zu einem Auslöser (wenn auch nicht zur Ursache) des Zweiten Weltkrieges.

Eine weitere Korridor-Erfahrung machte Finnland ab September 1944, als es den Sowjets die 380,5 Quadratkilometer große Halbinsel Porkkala als Militärbasis abtreten mußte. Da eine finnische Bahnstrecke durch einen Teil des von den Sowjets besetzten und faktisch annektierten Gebietes führte, stellten sich auf die Trittbretter der finnischen Züge bewaffnete Sowjetsoldaten, nachdem vorher sämtliche Abteilfenster mit Blechplatten verschlossen worden waren. Die Sowjets räumten Pokkala 1956 in der Chruschtschow-Ära; laut "Vertrag" sollte die Besatzung bis 1994 andauern.

Bliebe für Nordostpreußen noch eine Möglichkeit, wie sie der russische Gouverneur des Gebietes, Wladimir Jegorow, vorschlug: Der Bezirk Kaliningrad solle einen "Sonderstatus" innerhalb der EU erhalten und damit faktisch der EU angegliedert werden. Das aber könnte auf längere Sicht doch nur der erste Schritt einer Abnabelung von Rußland sein, bis hin zur Entstehung eines russischen Mini-Staates an der polnischen Nordostgrenze. Voraussetzung wäre eine Anhebung des Lebensstandards des Gebietes, die wiederum Milliarden Euro kosten würde. In seinem jetzigen Stand könnte sich das Gebiet bei bestem Willen nicht mit der EU assoziieren.

Eine letzte - und am meisten logische - Variante wird heute allenfalls hinter vorgehaltener Hand diskutiert: Die Rückgabe Königsbergs an seinen "rechtmäßigen Eigentümer", nämlich Deutschland. Ganz so abwegig wäre diese Variante nicht, denn seinerzeit - so will es jedenfalls ein nicht auszurottendes Gerücht - hätten Sowjetpräsident Gorbatschow und später Rußlands Präsident Jelzin der Bundesrepublik Königsberg zum "Rückkauf" angeboten. Altkanzler Kohl und Außenminister Genscher sollen das abgelehnt haben, nicht zuletzt aus Kostengründen. Aber wer weiß, vielleicht kommt so ein Angebot wieder - und trifft auf mutigere und handlungsfähigere deutsche Politiker? Aber das wäre dann ein neues, unbeschriebenes Kapitel.


 
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