© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/02 24. Mai 2002

 
" . . . und danach die Hand des ganzen Volkes"
Zuwanderung: Die Kirchen haben nicht mehr den Mut, ihre einfache Glaubensbotschaft zu verkündigen
Klaus Motschmann

Bundeskanzler Schröder hat sich in den Auseinandersetzungen um das Zuwanderungsgesetz neben anderen "gesellschaftlich relevanten Gruppen" wiederholt und an hervorragender Stelle auf die Zustimmung der Kirchen berufen. Damit wird zunächst eine wichtige Frage nach dem Demokratieverständnis des Bundeskanzlers und der ihm zustimmenden Fraktionen und Gruppen aufgeworfen: Steuern wir auf einen Korporationsstaat zu? So wichtig diese "gesellschaftlichen Gruppen" auch sind - repräsentieren sie das Volk im Sinne unseres Grundgesetzes?

Das Votum der Kirchen ist insofern wichtig, als sich die bislang vorherrschenden wirtschaftlichen Begründungen bei vier Millionen Arbeitslosen immer weniger überzeugend vertreten lassen und deshalb dringend einer Abstützung durch christlich-moralische Argumente bedürfen. Wenn aus bischöflichem Munde zu hören ist, daß eine Ablehnung dieses Gesetzes eine "Schande" sei, dann hat das schon die gewünschte disziplinierende Wirkung, zumindest in dem immer wieder lobend erwähnten "anständigen" Teil unseres Volkes.

Doch in welcher Vollmacht und in welcher Absicht äußern sich die Kirchen zur Zuwanderung? Bei allen kirchlichen Äußerungen geht es ja nicht nur um den Glauben, sondern immer auch um die Glaubwurdigkeit. Sie wird ganz erheblich beeinträchtigt, wenn der Eindruck entsteht, daß die Kirchen zwar "alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und allen Glauben" hätten, aber nicht die Fähigkeit, dies dem Volke auch zu vermitteln, weil sich der Verdacht politischer Parteinahme aufdrängt.

Zur Vermeidung sehr naheliegender Mißverständnisse sollten sich die Kirchen gegenseitig und gemeinsam an einen Grundsatz erinnern lassen, den der maßgebende evangelische Theologe und Sozialist Karl Barth formuliert hat: Das Zeugnis der Kirchen "wird in der Regel sicher ganz anders lauten als die Verlautbarungen von anderer Seite. Steht es in allzu breiter Übereinstimmung mit dem, was die Regierungen, die herrschenden Parteien, die Massen da und dort ohnehin sagen, dann muß es zwar nicht notwendig falsche Prophetie sein. Aber die Frage, ob es das nicht sein möchte, legt sich dann allerdings peinlich nahe und sollte dann von der Gemeinde sehr streng geprüft werden".

Wo wird heute noch "sehr streng geprüft", was unsere Kirchen zu allen möglichen Problemen in Gesellschaft und Politik verlauten lassen? Wird Bundespräsident Rau, der das ihm zur Unterschrift vorliegende Zuwanderungsgesetz nach eigenem Bekunden "sehr streng prüfen" will und von Amts wegen auch muß, auch diesen Aspekt in der ihm eigenen christlichen Verantwortung prüfen?

Zunächst bedarf es keiner besondern Prüfung, wenn die Kirchen seit Jahren immer wieder an die biblischen Schutzgebote gegenüber den im Lande lebenden "Fremdlingen" erinnern. Die biblischen Aussagen sind eindeutig und lassen keinen Spielraum für exegetische Umdeutungen. Nur einige sollen genannt werden:

- "Die Fremdlinge sollst du nicht schinden"( 2. Mose 22, 20);

- "Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken, denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil auch ihr Fremdlinge in Ägypten gewesen seid" (2. Mose 23, 9);

- "Den Fremdlingen,Waisen und Witwen sollt ihr keine Gewalt antun (Jer. 7, 6);

- "Es soll einerlei Recht unter euch sein" (3. Mose 24, 22; 4. Mose 15, 16 u.a.m.).

Woran die Kirchen nicht erinnern, sind die sozialen Konsequenzen, die sich aus diesen Schutzgeboten für die Fremdlinge, vor allem aber für die einheimische Bevölkerung ergeben: für die Fremden die selbstverständliche Verpflichtung der Anerkennung der in Gottes Geboten begründeten Rechts- und Sozialordnung; für die Einheimischen eine deutliche Distanz zu den Fremden, um jede nur mögliche Störung der eigenen Rechtsordnung und damit des Verhältnisses zu Gott durch die Verführung fremder Religionen, heidnischer Kulturen und falscher Propheten bereits im Ansatz zu verhindern. Auch dazu gibt es sehr eindeutige Aussagen, die ebenfalls keinen Spielraum für exegetische Umdeutungen lassen, sofern man die genannten Schutzgebote als Leitlinie der Auseinandersetzung akzeptiert.

Der enge Zusammenhang zwischen den Rechten und Pflichten der Fremden wird unmißverständlich veranschaulicht an der Begründung für das "einerlei Recht", auf das weiter oben hingewiesen worden ist. Es bezieht sich auf die Strafe für Gotteslästerung, die von der ganzen Gemeinde durch Steinigung des Lästerers vollzogen wurde, im konkreten Fall (3. Mose 24, 10) an dem Sohn einer israelitischen Frau und eines ägyptischen Mannes. Deshalb das Gebot: "Wer den Namen des Herrn lästert, der soll des Todes sterben", gleichgültig ob Einheimischer oder Fremder.

Nicht minder eindeutig waren die religiösen Gebote, die das soziale Verhalten des Fremden im Alltagsleben bestimmten und die er anzuerkennen hatte. Einige Beispiele:

- das Gebot der Sabbatheiligung (2. Mose 20, 10);

- diverse Speisegebote bzw. Verbote (2. Mose 12, 19; 3. Mose 17, 10 u.a);

- das Verbot jeglichen Götzendienstes (3. Mose 20, 2; Hes.14, 7);

- das Verbot des Umganges mit "Wahrsagern und Zeichendeutern" (3. Mose 20, 6);

- das Verbot der "Unzucht", zum Beispiel der Homosexualität (3. Mose 18, 22).

Verstöße gegen diese Gesetze wurden in der Regel ebenfalls mit dem Tode bestraft, zumindest aber mit der Vertreibung der Gesetzesbrecher und der Vernichtung ihrer Kultstätten geahndet. Das "Böse" sollte so radikal aus dem Bewußtsein des Volkes getilgt werden, als habe es das niemals gegeben: "Zerstöret alle Orte, da die Heiden, die ihr vertreibet, ihren Göttern gedient haben. Reißet ihre Altäre um, zerbrechet ihre Säulen und verbrennet ihre Haine, zerschlaget die Bilder ihrer Götter und vertilget ihren Namen aus demselben Ort" (5. Mose 12, 2 f).

Diese Strafandrohungen richteten sich nicht nur an die Fremden, sondern auch an das eigene Volk, und zwar nicht nur an einzelne. Sollte zum Beispiel eine Stadt Gotteslästerungen, Götzendienst oder andere schwere Verstöße gegen Gottes Gebote dulden, so soll man "die Bürger derselben Stadt mit des Schwertes Schärfe schlagen und sie verbannen mit allem, was darinnen ist" (5. Mose 13, 16). Mose selber hat den Befehl zu einer derartigen Strafaktion gegeben, bei der innerhalb eines Tages 3.000 Menschen umgebracht wurden, und zwar nahe Angehörige, Freunde und Nächste (2. Mose 32, 25 ff). Nachsicht, Mitleid, womöglich sogar Beistand sind ausdrücklich verboten: "Auch dein Auge soll seiner nicht schonen, und du sollst dich seiner nicht erbarmen noch ihn verbergen, sondern du sollst ihn erwürgen. Deine Hand soll (bei der Steinigung) die erste über ihm sein, daß man ihn töte, und danach die Hand des ganzen Volkes" (5. Mose 13, 10 f).

Um möglichen Rechtsverletzungen im täglichen Umgang mit den Fremden zu begegnen, die sich oft genug unbewußt ereigneten, gibt es eine Fülle von Vorschriften, die auf deutliche Distanz zu den Fremden angelegt sind. Dazu zählte neben den Warnungen vor "Freundschaft" ( 5. Mose 7, 3), gemeinsamen Festen oder gar Tischgemeinschaft (2. Mose 34, 15) in erster Linie das Verbot der Mischehe. Zunächst war nur die Ehe mit Kanaaniterinnen verboten (5. Mose 7, 3), ist dann aber unter dem Eindruck der Erfahrungen mit den Mischehen auf alle heidnischen Völker ausgedehnt worden. Dabei ist nicht nur an den verhängnisvollen Einfluß "fremder Weiber" auf die Könige Salomo (l. Kön. 11, 1) und Ahab (1. Kön. 16, 31) zu denken, sondern vor allem an die Alltagserfahrungen: die Kinder aus Mischehen sprachen in der Regel nur noch die (fremde) Muttersprache und immer weniger die Sprache der Väter, das heißt die Sprache der religiösen und kulturellen Tradition (Neh. 13, 24). Damit wurde die Identität des israelischen Volkes erheblich bedroht, so daß auf die Einhaltung dieses Gebotes mit Nachdruck Wert gelegt wurde. Der Prophet Esra ließ von allen Priestern und Leviten (Kultdiener) einen Eid ablegen, "daß wir alle Weiber und die von ihnen geboren sind, hinaustun" (Esra 10, 3). Dem Propheten Nehemia wurde es als Hauptverdienst seines Wirkens angerechnet, daß er in diesem Sinne die Priesterschaft und die Leviten "von allem Ausländischen reinigte" (Neh. 13, 30).

Wie selbstverständlich die Distanz zwischen Einheimischen und Fremden im Alltagsleben beachtet wurde, bezeugt die Geschichte von der Begegnung Jesu mit dem kanaanäischen Weib (Matth. 15, 21-28). Es hatte Jesus um Hilfe für seine besessene Tochter angerufen, ist aber von Jesus zunächst mit harten Worten abgewiesen worden: "Es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde." Man stelle sich den Sturm der Entrüstung vor, sollte heute eine um Hilfe nachsuchende Ausländerin mit einem kranken Kind - von wem auch immer - abgewiesen werden. Aber die Distanz wird augenblicklich aufgehoben durch das Bekenntnis der Kanaanäerin zu Jesus Christus, der von sich gesagt hat: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich" (Joh. 14, 6).

Das "kanaanäische Weib" hat damit auf den entscheidenden Ansatz zur Lösung unserer weltlichen Probleme - damals wie heute - hingewiesen. Er liegt - jedenfalls nach christlichem Verständnis - im Glauben an Jesus Christus, der allen Völkern verkündigt werden soll. Der Missionsbefehl Jesu lautet nicht, daß alle Völker zu uns kommen sollen, sondern exakt umgekehrt: daß die Christen zu allen Völkern gehen sollen, um ihnen diese Botschaft zu verkündigen.

Es ist beschämend, daß die Kirchen nicht mehr den Mut haben, diese - zugegebenermaßen höchst unzeitgemäße - Botschaft wenn schon nicht mehr allen Völkern, so doch wenigstens unserem Volke unverkürzt und eindeutig zu vermitteln und damit einen wesentlichen Beitrag zur Orientierung zu liefern. Einige aus dem Zusammenhang gelöste und isoliert behandelte Aussagen der Bibel zum Thema "Fremde" reichen dazu nicht aus; allenfalls zur Abstützung der ideologischen Konzepte zur Umwandlung unseres Volkes in die angestrebte multikulturelle Gesellschaft.

Aber selbst dabei sollten einige intellektuelle Mindeststandards im Interesse der Glaubwürdigkeit beachtet werden, die der Nestor der deutschen Soziologie, Max Weber, gerade Theologen und christlichen Politikern ins Stammbuch geschrieben hat: "Mit der absoluten Ethik des Evangeliums ist es eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein Fiaker, den man beliebig halten lassen kann. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll." Und das sollte es, auch aus kirchlichen Stellungnahmen.


 
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