© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/02 31. Mai 2002

 
Ausziehen? Ich? Warum?
Kino I: "Tanguy - Der Nesthocker" von Etienne Chatiliez ist eine erfrischende Komödie über Eltern-Kind-Konflikte
Claus-M. Wolfschlag

Die französische Komödie versteht es von jeher exzellent mit der Umkehrung von Rollenbildern zu arbeiten, mit dem Erzeugen unüblicher Beziehungssituationen.

Regisseur und Drehbuchautor Etienne Chatiliez, Jahrgang 1952, ist für diese Strömung das Paradebeispiel. Man denke nur an seine rabenschwarze Komödie "Tante Danielle", die vor zwölf Jahren Erfolge feierte, und in der eine Greisin einmal nicht als bedauernswertes Opfer der Machenschaften ihrer geldgierigen jungen Nachkommen dargestellt wurde, sondern eine durch und durch bösartige und ihr Alter als Waffe einsetzende Intrigantin abgab. In Chatiliez' neuem Film "Tanguy"ist es nun die Umkehrung des Mutter-Sohn-Verhältnisses, aus der erfrischend humoreske Szenen entwachsen.

Der 28jährige Tanguy (Eric Berger) ist ein Mustersohn, wie er im Bilderbuch steht. Nach brillant bestandenem Staatsexamen in Philosophie, einem Zweitstudium in Orientalistik, einer gut bezahlten Dozentur in Chinesisch, müht er sich nun auch noch mit einer Doktorarbeit. Er ist nicht nur beruflich erfolgreich, auch bei den Frauen besitzt Tanguy große Chancen. Er hat eigentlich überhaupt kein Problem mit seinem Leben. Das haben vielmehr seine Eltern, vor allem seine Mutter. Denn statt die Bindung zu ihrem flügge werdenden Sohn erhalten zu wollen, möchte Tanguys Mutter genau das Gegenteil: Den Sohn nach 28 Jahren gemeinsam verbrachter Zeit endlich loswerden, Freiraum, ihre Ruhe. Tanguy dagegen denkt gar nicht daran, aus der großzügigen Pariser Dachwohnung seiner Eltern auszuziehen. Schon als Neugeborener kam er 13 Tage zu spät auf die Welt, und die nächsten fünf, sechs Jahre, die er für die Erstellung seiner Dissertation einplant, soll sich an der gemeinsamen Wohnsituation mit seinen Eltern seiner Meinung nach auch nichts ändern. Morgens frisch gepreßter Orangensaft, ein die Wäsche bügelndes Hausmädchen, was will man mehr? Da seine Eltern ihn mit Geduld und guten Worten nicht zum Auszug bewegen können, beginnen sie stärkere Geschütze aufzufahren, schmeißen heimlich sein bestes Hemd in den Müll, verstecken einen stinkenden Fisch in seinem Zimmer, drehen eine Schraube der Badezimmerfußleiste halb heraus, damit er daran hängen bleibe, oder stören seine Nachtruhe durch zeitlich unpassendes Staubsaugen. Das Leben im Elternhaus soll ihm langsam zur Hölle gemacht werden. Doch Tanguy ist widerstands- und anpassungsfähig.

Chatiliez' ungemein unterhaltsame Komödie spielt mit Symptomen der westlichen, individualisierten Gesellschaft, in der der Abnabelung von der Familie meist nur das Single-Dasein folgt. Die Ein- oder Zwei-Kind-Familien machen es sogenannten "Nesthockern" möglich, dem zeitigen Single-Dasein durch das Verharren in der Kombination von Erwachsensein und Kindstatus im Elternhaus zu entgehen.

Mitte der 1990er Jahre lebten schätzungsweise vier Millionen deutsche Familien mit "Nesthockern" jenseits der Volljährigkeit. Mädchen verlassen dabei durchschnittlich zwei Jahre früher das Elternhaus als Jungen. Das Phänomen des "Nesthockens" ist allerdings keinesfalls auf Deutschland oder Frankreich beschränkt, sondern vor allem in den Mittelmeerländern verbreitet. In Spanien leben 62 Prozent aller jungen Erwachsenen zwischen 25 und 30 Jahren bei ihren Eltern.

In dieser Zeit legen sie die gesparte Miete auf die hohe Kante, um sich eine Immobilie für die spätere eigene Familie leisten zu können. In Japan ziehen selbst Jungverheiratete nicht zwangsläufig zusammen, sondern leben weiterhin unter elterlicher Obhut, was zu Pendlerehen führt. Und in China wohnen auch junge Paare in großfamiliären Zusammenhängen mit Eltern und Großeltern unter einem Dach.

So ist es nicht verwunderlich, daß Tanguy nach vielen für ihn und seine Eltern zermürbenden, aber für den Zuschauer höchst amüsanten Kämpfen, sein Heil in der Ausreise nach China, in eine andere Kultur, sieht, wo er, seine neue Frau und deren Eltern schließlich ein neues, großes Nest bilden, ohne daß dies mit gängigen gesellschaftlichen Lebensvorstellungen in Widerspruch stehen oder zu Lästerei herausfordern müßte.


 
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