© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   24/02 07. Juni 2002


Das Klima des Verdachts
Möllemann, Walser und die Republik der Denunzianten
Doris Neujahr

Sind wir Deutschen ein Volk von Denunzianten? Wenigstens ist das Denunziantentum das einzige Feld, auf dem in Deutschland noch Spitzenleistungen gelingen. Der Angriff von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher auf Martin Walser wegen eines unveröffentlichten Romanmanuskripts ist sogar rekordverdächtg.

Früher lag das Corpus delicti, wie lächerlich es auch war, wenigstens nachprüfbar auf dem Tisch. Jetzt werden die Verbrechen schon präventiv, im Stadium des unterstellten Gedankenverbrechens, geahndet. Eine vergleichbare Praxis kannte man bisher nur aus der DDR. Auch dort wurden gegen Schriftsteller wie Alexander Solshenizyn, Reiner Kunze oder Wolf Biermann Hetzkampagnen losgetreten, ohne daß das Publikum ihre Texte kannte und sich eine eigene Meinung bilden konnte.

Nichts geht mehr in Deutschland ohne die Letztbegründung durch den Holocaust und den Vorwurf seiner "Verharmlosung". Sie sind zu Argumenten für jede Gelegenheit verkommen, mit denen Diskussionen abgewürgt oder in eine bequeme Richtung gelenkt werden können. Die Inquisitoren wollen keinen Meinungsstreit, sie dulden nur das Schuldbekenntnis und die Unterwerfung.

Es muß keine politische Strategie mehr dahinterstecken, die Medienaufregung trägt ihren Wert in sich selbst. Im Konkurrenzkampf der Presse, des inzestuösen, durch innige Freundfeindschaften verbundenen deutschen Feuilletons, müssen Themen besetzt werden, was am besten gelingt, wenn man sie selber erfindet und dazu die Faschismus-Pauke schlägt. Es ist unfaßbar, daß nun auch das FAZ -Feuilleton auf dieses Mittel verfallen und zu einer Kreuzung aus Frankfurter Rundschau und Bild herabgesunken ist und das schlimmste Geschichtskapitel für den niedrigsten Zweck instrumentalisiert.

Was sind die Folgen dieser Entwicklung? Da ist die Blutspur der stigmatisierten oder vernichteten Existenzen, für die Namen wie Jenninger, Nolte, Syberberg oder Heitmann stehen. Vor allem erfährt das geistige Leben eine haarsträubende Regression. Während im Ausland über den "Aufstieg und Fall der großen Mächte" und den "Kampf der Kulturen" nachgedacht wurde, über demographische Probleme und über die Möglichkeiten, den globalisierten Kapitalismus in zivilisierte Bahnen zu zwingen, hat Deutschland in den letzten 15 Jahren nichts weiter hervorgebracht als einen wertlosen "Historikerstreit", dazu die "Wehrmachtsausstellung", die "Goldhagen-Debatte", schließlich den "Walser-Bubis-Streit". Jetzt steht eben ein "Antisemitismustreit" auf der Tagesordnung, von dem jeder weiß, daß er jeder Grundlage entbehrt und deshalb - wie alle anderen "Debatten" auch - ohne Ertrag und Nutzen bleiben wird.

Damit ist eine geistige Situation gekennzeichnet, die dieses Land langweilig, intellektuell und ästhetisch uninspiriert, provinziell und lächerlich macht. Einerseits wird stets betont, daß die intellektuellen Ressourcen die einzigen sind, über die Deutschland verfügt, um sie dann weiter sinnlos zu verpulvern, statt sie endlich auf die wichtigen Probleme zu lenken. Hier liegt die tiefere Ursache dafür, daß es trotz ungeheuerer Geldmittel bisher nicht gelungen ist, die Ex-DDR auf Westniveau zu transformieren und gleichzeitig die reformbedürftige BRD umzubauen und damit ein Modell für Europa zu liefern.

Schirrmacher sieht im Blechtrommler Oskar Matzerath, der partout nicht erwachsen werden will, erklärtermaßen das Sinnbild der alten BRD. Als Sinnbild des heutigen Deutschland muß man Diederich Heßling, den "Untertan" aus Heinrich Manns gleichnamigen Roman, nennen. Schirrmacher selbst setzt die von Heßling verkörperte Dialektik von Machtrausch und Unterwerfung in postmoderner Ausprägung fort: Das ewige Wunderkind, das ängstlich darauf achtet - und darunter leidet -, seine Klugheit nicht durch Lebenserfahrung und persönliches Risiko untermauern zu müssen. Seine Erfahrungslosigkeit kompensiert er durch Sympathien für Joschka Fischer und eine gestörte Wahrnehmung, in der eine sinkende Auflagenzahl als Alarmruf des Schicksals und die eigene Giftspritzerei als tollkühnes Stahlgewitter erscheinen.

Wenn der Angriff auf Walser wenigstens als grandioser Vatermord dahergekommen wäre, verübt mit dem Recht des jugendlichen Stürmers und Drängers! Stattdessen nur biedere Zitatenklitterung und die Tücke des Heckenschützen. Der Herausgeber der "Zeitung für Deutschland" drängelt sich vor, um in der als "Aufstand der Anständigen" camouflierten Menschenjagd schnell noch einen prominenten Skalp zu ergattern. Da ist der landestypische, pathologische Haß des intelligenten - in diesem Fall sogar: hyperintelligenten - Mittelmaßes auf jedwede Größe und geistige Eigenständigkeit verräterisch zum Durchbruch gekommen.

Allmählich werden die Gründe klar, warum die Bundesrepublik einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Stasi-Problematik ausweicht, warum sie sie so konsequent zur alleinigen Angelegenheit der Ex-DDR erklärt. Es geht nicht bloß um die unentdeckten Spitzel in Parteizentralen und Zeitungsredaktionen, vor allem fürchtet man den Blick in den Spiegel. Denn die Verhaltensweisen damals und heute weisen große Ähnlichkeiten auf. Es gibt ein ähnliches Duckmäusertum, ein ähnliches Auseinanderklaffen von öffentlicher und privater Rede, eine ähnliche Befolgung der Sklavenrhetorik. Wer in der DDR Mißstände kritisierte, mußte wortreich vorausschicken, daß er damit die edle Sache des Sozialismus stärken wollte. Wer heute dem faulen Zeitgeist widerspricht, muß beteuern, daß er um Himmels willen nicht das Dritte Reich "verharmlosen" will.

Natürlich sind die Zustände in der DDR und in der aktuellen BRD nicht dieselben. Sie sind heute besser und schlechter zugleich. Besser, weil in der DDR das Zuchthaus Bautzen drohte, in der BRD nur der Karriereknick. Schlechter, weil die DDR-Bürger wenigstens wußten, daß sie unfrei waren.

Vielleicht hat Schirrmacher dem Land ungewollt einen Dienst erwiesen. Sein "Offener Brief" an Walser könnte die berühmte Überdrehung der Schraube, das Quentchen Quantität sein, das den qualitativen Umschlag bringt. In den Chor der üblichen Klageweiber (Walter Jens, Ralph Giordano, Hellmuth Karasek usw.) mischt sich schon jetzt ein unüberhörbares Aufstöhnen, ein verzweifeltes: "Nicht schon wieder!"

Doch nichts kommt von allein, und wer seine Hoffnungen auf die großen Institutionen und etablierte Autoritäten setzt, baut auf Sand. Es liegt an jedem einzelnen, sich in einem formell freiheitlich verfaßten Staat tatsächlich wie ein freier Mensch zu benehmen.


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