© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
Bleibt Ostpreußen russisch?
EU-Gipfel über die russische Exklave Kaliningrad: Wolfgang Seiffert über unangebrachte deutsche Rückkehrillusionen
Wolfgang Seiffert

Auf dem jüngsten EU - Rußland Gipfel im Mai in Moskau hielt die Europäische Union (EU) an ihrer Drohung fest, die russische Exklave Kaliningrad durch Einführung des Schengener Visa-Regimes von ihrem Mutterland abzuschneiden.

Es fragt sich jedoch, ob die EU sich hier auf rechtliche Grundlagen berufen kann und ob es hierfür überhaupt eine praktische Notwendigkeit gibt.

Es ist immer nützlich, wenn Politiker, Staaten, Internationale Organisationen - zum Beispiel die EU - und natürlich auch die Medien sich bei der Erörterung internationaler Probleme vergewissern, welchen Rahmen für ihre Lösung das geltende Völkerrecht setzt, an das Staaten wie Internationale Organisationen nun mal gebunden sind.

Mit dem Inkrafttreten des "Vertrages über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12.9.1990" (dem sogennannten Zwei-plus-Vier-Vertrag) steht es völkerrechtlich außer Frage, daß das Gebiet Kaliningrad ein Teil Rußlands ist. Auch nach Artikel 65 der Verfassung der Russischen Föderation ist das Gebiet ein konstitutiver Bestandteil und ein Rechtssubjekt eben dieser Föderation. Allerdings handelt es sich bei dem Gebiet Kaliningrad um eine russische Exklave, weil dieses Gebiet von Litauen und Polen umschlossen ist. Doch für solche Fälle hat sich schon lange völkergewohnheitsrechtlich das Recht auf freie Verbindung zwischen Mutterland und Exklave herausgebildet, mit anderen Worten, es besteht völkerrechtlich ein Transitrecht, auf dem Landwege vom Mutterland zu der Exklave und umgekehrt zu gelangen. In bezug auf Kaliningrad ist dies auch zumindest in den 12 Jahren seit Inkrafttreten des Zwei-plus-Vier-Vertrages praktisch und auf Grund von Sonderregelungen zwischen den betroffenen Staaten so gehandhabt worden.

Rußland hat also das Recht auf freien Zugang zu seiner Exklave, und darüber hinaus gebieten es die allgemeinen Menschenrechte, weder die Bewohner Kaliningrads von ihrem Mutterland noch die Einwohner des übrigen Rußlands von ihrem an der Ostsee gelegenen Gebiet (zum Beispiel die Touristen) zu trennen.

Regelungen der EU über Freizügigkeit von Waren, Kapital und Personen innerhalb der EU können also auf den Zugang von Staaten und Staatsangehörigen aus Nichtmitgliedstaaten zu einer Exklave nicht einseitig angewandt werden, sondern bedürfen der Zustimmung des betroffenen Staates, im Falle von Kaliningrad der Russischen Föderation. Kommt es zu keiner Einigung, so gilt die bisherige Praxis weiter.

Die bisherige Position der EU, im Falle eines Beitritts von Litauen und Polen das sogenannte Schengener Visa-Regime auf den Transit zwischen Kaliningrad und dem übrigen Rußland anzuwenden, ist also nicht nur politisch nicht vertretbar, sie ist auch völkerrechtlich nicht haltbar. Zudem gibt es kein Junktim zwischen dem Beitritt zur EU und einem Beitritt zum Schengener Abkommen. Nach Artikel 49 Abs. 1 des Vertrages über die Europäische Union, kann jeder europäische Staat, der die in Art. 6 Abs. 1 genannten Grundsätze achtet, Mitglied der EU werden. Zwar arbeitet die EU mit dem Argument, das Visum-Regime des Schengener Abkommens sei "Besitzstand" der EU und die beitretenden Länder müßten sich diesem Regime unterwerfen. Doch das ist sowohl tatsächlich wie rechtlich unzutreffend. Dänemark, Großbritannien und Irland sind Mitglieder der EU, aber nicht des Schengener Abkommens. Daran hat auch das "Protokoll (Nr.2) zur Einbeziehung des Schengener - Besitzstandes" nicht geändert, sondern im Gegenteil festgeschrieben, daß diese Staaten kein Mitglied des Schengener Abkommens sind.

Warum also sollte das nicht auch für Litauen und Polen gelten?

Aber vielleicht gibt es einen praktischen Grund, das Schengener Visa-Regime auf Litauen und Polen anzuwenden? Das Gegenteil ist der Fall. Zwischen Polen und dem Kernland der EU, nämlich Deutschland, gibt es bereits seit Jahren visafreien Verkehr und auch Litauer können ohne Probleme in die EU-Staaten reisen bzw. umgekehrt EU-Bürger nach Litauen. Welcher Teufel also reitet die EU, wegen des Transitrechts der Russischen Föderation nach ihrem Kaliningrader Gebiet einen Konflikt mit diesem Land zu provozieren?

Solche Transitrechte sind in der internationalen Praxis normal. Bekanntlich ist Alaska der 49. Bundesstaat der USA und zwar seit dem 3. Januar 1959. Doch zwischen Alaska und den USA liegt Kanada. Das Problem des Transits wurde hier dadurch gelöst, daß die USA eine Straße quer durch Kanada zu ihrem Bundesstaat Alaska haben; die Alaskan Highway (Alcan) ist 2.394 Kilometer lang und wurde bereits am 25. Oktober 1942 nach nur acht Monaten Bauzeit dem Verkehr übergeben.

Dennoch wäre es sicher sinnvoll, wenn es zwischen der EU und Rußland unter Einbeziehung von Litauen und Polen zu einer einvernehmlichen Regelung der Problematik käme. Eine solche einvernehmliche Regelung aber wird nur möglich sein, wenn sie von dem international-rechtlich begründeten freien Zugang Rußlands zu ihrer Exklave Kaliningrad ausgeht. Das könnte die Beibehaltung und Verbesserung der bisherigen Praxis sein; das können auch Regelungen sein, die für den Transitverkehr zwischen Rußland und der Exklave Kaliningrad besondere Verfahrensweisen vorsehen. Hier von "Korridoren" zu sprechen, wie das von russischer Seite geschieht, ist nicht nur verfrüht, es ist auch semantisch deplaziert, weil es nur ungute Erinnerungen weckt.

Wer aber glaubt, mit dieser Problematik, bei der es nur um Transitrechte geht, Illusionen an eine Rückkehr dieses Gebietes an Deutschland oder Verkaufsoptionen an Polen verbinden zu können, lebt außerhalb unserer Welt. Wladimir Putin ist nicht Josef Stalin, sonst hätte er ähnlich wie dieser damals bezüglich des Vatikans seine Berater heute gefragt: "Wieviele Panzer hat die EU?" Die Europäer hätten vor einem Jahr noch auf die Nato hoffen können. Doch heute könnte die Nato die EU nur darauf verweisen, daß Rußland "unser Verbündeter" (US-Präsident George W. Bush) ist.

Die jüngsten Verhandlungen zwischen der Nato und Rußland zeigen einmal mehr, daß man nur zu Lösungen kommen kann, wenn man Rußland als gleichwertigen Partner betrachtet und nicht versucht, ihm Entscheidungen aufzuzwängen, an denen es nicht mitgewirkt hat.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Di-rektor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen