© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002

 
Pankraz,
die Gebetsmüller und der Gesang der Barbaren

Wer abzustürzen droht, der sucht verzweifelt nach Haltegriffen. Auch das aktuelle Kanon-Gehubere allenthalben hat etwas Verzweifeltes. Experten und solche, die sich dafür halten, stellen Listen zusammen von dem, was man angeblich unbedingt gelesen, gesehen oder gelernt haben muß, um - ja, um was? Um up-to-date zu sein? Um mitreden zu können? Um nichts zu versäumen? Um nicht ins totale Nichts von Ignoranz und Langeweile zu fallen?

Kanons, d.h. Regelwerke, Ansichtskataloge, wurden in der Vergangenheit immer dann aufgestellt, wenn die Sache, die geregelt und katalogisiert werden sollte, in sich abgeschlossen, gleichsam abgestorben war, wenn es sich nicht mehr lohnte, sich mit ihr als einem lebendigen Phänomen auseinanderzusetzen, sie zu kritisieren, sie als natürlichen Teil des eigenen Lebens zu betrachten. Überträgt man das auf die aktuelle Lage, so kann einem himmelangst werden um Literatur, Theater, Physik, E-Musik.

Alle diese Lebensbereiche scheinen an ihr Ende gekommen zu sein, so daß es nur noch Wiederholungen der immer gleichen Töne und Gesten geben kann und statische Bewunderung der vergangenen Blütezeiten und ihrer Hochprodukte. Am deutlichsten ist das in der E-Musik zu spüren, wo sich die Schaffensspanne zwischen Monteverdi und Schönberg als ein in sich gerundeter, vollendeter Werkzyklus darstellt, der - Henze und Nono sei's geklagt - nicht mehr weiterentwickelt, sondern nur noch reproduziert und zelebriert werden kann wie japanisches No-Spiel.

Ähnlich steht es mit dem Theater. Kein Mensch geht mehr ins Theater, um dort etwas über das zu erfahren, was uns bevorsteht oder sonstwie wichtig ist. Im Gezappel der Mimen, handle es sich nun um neue Stücke oder um von modernen Regisseuren zurechtgehackte Klassiker, drückt sich weder Zukunft noch soziale Wirklichkeit aus, sondern lediglich - bestenfalls - Protest gegen die Wirklichkeit, Angst vor der Zukunft, bloßes Aufbäumen der Körper, das manchmal noch zu schönen oder erschreckenden Bildern gerinnt.

Aber auch die Physik, die jahrhundertelang als Leitwissenschaft und absoluter Wahrheitsgarant fungierte, versinkt als lebendiges Wissensmuster hinter dem Abendhorizont. Das, was sie leisten kann, steht und erweitert sich nicht mehr, ihr Methodenarsenal ist ausgeschritten und bestens katalogisiert, die Unschärferelation hat die Grenze aufgezeigt, über die sie nicht hinausgelangen kann.

Biotechnik, Fernsehkrimi, Popmusik und Videospiele treten an die Stelle von Physik, Theater, Literatur und E-Musik. Man mag das bedauern (Pankraz bedauert es unendlich), übersehen kann man es nicht. Bio, TV und Pop werden wirklich ernst genommen, während man die ehrwürdigen alten Disziplinen nur noch behandelt wie den evangelischen Gottesdienst. Man geht hinein, weil es sich irgendwie gehört und an bessere Zeiten erinnert, doch die ausführenden Kräfte dort sind bereits fleißig dabei, ihre toten Rituale durch Anpassung an den Stil moderner Trendsetter "aufzupeppen", was meistens recht hilflos wirkt und zu peinlichen Melangen führt.

Selbst eine scheinbar so moderne Angelegenheit wie das Kino bezeugt durch dauernde Anpassung an den Fernseh- und Pop-Betrieb, wie abgelebt und in sich vollendet sie schon ist. Längst gibt es keine Kinofilme mehr, die das Zeug dazu hätten, Klassiker zu werden, Wege zu legen, Höhepunkte zu markieren. Auch hier ist das Arsenal der arteigenen Möglichkeiten ausgeschritten. Alles, was an "neuartigen" Dramaturgien, Kamera- und Schneidetricks, Tempo-Steigerungen bzw. Tempo-Verminderungen geboten wird, stammt aus dem TV-Bereich, aus Gewaltspektakeln, Pornographien und Werbespots, die dort gezeigt werden.

Und was für das Kino gilt, das gilt cum granosalis auch für die Literatur. Auch sie paßt sich an, nur nützt es ihr noch weniger als dem Kino, das wenigstens noch insofern konkurrenzfähig bleibt, als es in erster Linie Bild ist. Die Literatur hingegen besteht aus Wörtern und Sätzen, findet ihre Retraite in der Schrift, einem Medium, das eindeutig in die zweite Reihe rückt. So glänzen die Werke Goethes oder Fontanes für viele tatsächlich nur noch wie unendlich ferngerückte Abendsterne, als bloße Namen, deren Geschichte(n) wie die Horoskope langbärtiger Astrologen klingen.

Ob man dem durch die Aufstellung mehr oder weniger zufälliger Kanons abhelfen kann, steht ebenfalls ganz in den Sternen. Denkbar wäre, daß solche Kanons aufgeweckte, an lebendiger Vergegenwärtigung interessierte Zeitgenossen eher abschrecken. Dem Begriff des Kanons haftet von jeher etwas Oberlehrerhaftes, Zensurbehördliches, auch Gebetsmühlenartiges an. "Canon missae" heißen die sich ewig gleichbleibenden Gebetstexte der katholischen Meßfeier; auch vomKalender der Heiligen, die angebetet werden dürfen, spricht man als dem "Kanon", und als "Kanon" bezeichnete man schließlich die Konzilstexte und päpstlichen Dekretalen, an die sich jeder Priester bei Strafe der Exkommunikation zu halten hatte. Nicht gerade eine Appetit machende Etymologie!

Immerhin, "Kanon" war auch die wirklichkeitsnahe Festlegung der Maßverhältnisse am lebendigen menschlichen Körper in der großen bildenden Kunst, bei Polyklet, Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer. Und in der Musik gibt es bekanntlich einen "Kanon", der das genaue Gegenteil von strikter Vereinheitlichung und Reduzierung ist: die kontrapunktische Satzkunst im Chorgesang, das vielstimmige In- und Gegeneinander zahlreicher Stimmen, die sich erst in der Vielfalt der Geschmäcke und Temperamente zur Einheit fügen und so jeden Versuch kanonischer Gebetsmüllerei verspotten.

Wenn es eine Rettung für die großen Werke ernsthafter Kunst- und Kulturübung gibt, dann in solchem kontrapunktischen Chorgesang. Nur er kann das Krächzen von Barbaren übertönen.


 
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