© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/02 07. Juni 2002


Kindsein neu denken: Die neue Bandbreite der Gefühle
Grelles aus der Kinderstube
Ellen Kositza

Als ich noch klein war, schien die Welt noch heil und auch die Stadt, in der ich lebte. Die Offenbacher Kickers spielten in der ersten Fußballbundesliga, Rudi Völler ohne Schnauzbart war kaufmännischer Auszubildender beim Offenbacher Gelenkwellenhersteller Löbro und wurde dort von meiner Mutter angelernt. Nach tapfer bestandenen Nachmittagsterminen beim Kieferorthopäden, der damals noch Spangenarzt hieß, durfte Klein-Ellen sich beim Spielzeug-Behle oder Spiele-Kirschner eine Hörspielkassette oder Wachsmalfarben aussuchen und mit der roten Spangendose um den Hals, dem Erworbenen in der Hand allein und für 60 Pfennig mit dem Bus die kurze Heimreise in den Vorort antreten.

Längst heißt es Kindsein in Offenbach neu denken. Den minderjährigen Nachwuchs allein in die Stadt lassen nurmehr der Elternschaft irgendwie überdrüssige Erziehende reisen. Einwohner im Bereich der einst idyllischen, seit den Bombardierungen 1943 einzigartig häßlichen Einkaufsstraßen sind längst zur Minderheit geworden. Wo die Klientel verstorben oder weggezogen sind, sind auch Einzelhandelsgeschäfte rar, weil unnötig geworden, 99-Cent-Shops, Billig-Boutiquen, Döner-Stände, eine Neckermann-Fundgrube und ein Woolworth prägen das Bild der Innenstadt. Spielzeug-Behle und Spiele-Kirschner, zuletzt vor zwei Jahren auch das alteingesessene Schwabs Kinderland haben aufgegebenen, als der Zuzug des in den neunziger Jahren stark expandierenden Spielwaren-Giganten Toys "r" us deutlich machte, daß der Kunde auf Qualität und Beratung gern zugunsten einer Unmasse ("Riesenauswahl") von Plastemüll verzichtete.

1948 in den USA gegründet, startete das grelle Kinderkaufhaus (Selbstdarstellung: "Überall auf der Welt ein Synonym für Familienspaß und erfüllte Kinderträume") 1987 seinen Feldzug in Deutschland. Knapp 60 Märkte, größtenteils in den großen Einkaufscentern auf vormals grüner Wiese neben Ikea und Baumärkten plaziert, existieren derzeit von Saarbrücken bis Dresden, von Kiel bis Ulm und erwirtschaften längst die Branchenführung, weltweit beglücken 1.550 Filialen kauffreudige Eltern und ihre kids.

Nun ist ja dennoch niemand gezwungen, bei Toys "r" us in Offenbach einkaufen zu gehen. Geschenke für die Kleinen könnte man ebensogut selbst basteln oder aus Erziehungsgründen ganz auf Spielzeug und Schenkerei verzichten, sind doch auch spielzeugfreie Kindergärten ein kleiner Modetrend geworden. Statt Kinderwagen und den unsäglichen "Buggys" könnte man den Nachwuchs tragen oder selbst laufen lassen, statt eines Kinderstuhls plaziert man den Mitesser erhöht auf einem Kissen oder auf dem Schoß, oder man ersteigert das benötigte Accessoire über Ladenpreis im Internet bei ebay. Bemerkenswerterweise ist das Spielwarensortiment in den mehrere Meter hohen Reihen streng geschlechterspezifisch ausgerichtet. Rosapinkglitzernd funkelt der Gang für den girls-Bedarf, eine lebensgroße Barbie grüßt an der Regalfront, in den Fächern dann das Ausrüstungswerkzeug für die kleine Lolita, ein Spielset echt duftender "Parfüm Creationen" für den bezopften Nachwuchs, eine Auswahl an glänzenden Lipgloss-Proben für die Früh-Schminkerin, ein Sortiment Pose me Pets, das sind pastellfarbene Hündchen auf zwei Beinen, mit Schleifchen, Spängelchen, cooler Sonnenbrille und hochhackigen Pumps - welches girl möchte nicht gern damit schmusen! Oder, weiteres beliebtes Rollenvorbild neben der althergebrachten Barbie: Die Diva Starz, bauchnabelfreie Püppchen mit gezupften Augenbrauen und Silikonlippen zu je 44,99 Euro sind laut Werbung "clever, witzig und megagesprächig: Eine ganze Bandbreite von Gefühlen drücken sie durch Bewegungen ihrer Augen, ihres Kopfes und ihre individuelle Sprache aus". Zwei Mitkundinnen, junge Frauen, unterwegs mit ihren Mädchen in Plateauschuhen, finden das "krass" und packen ein. Weiter geht's, vorbei an einem pastellfarbenen Spielsortiment "Kombimöbel" für das, was eine trendige Hausfrau werden will: Es gilt, unterschiedliche Plastik-Wohnwelten in den Variationen "sweet", "hip", "glam" und "cool" zu kreieren.

Die boys-Abteilung einen Gang weiter bereitet ihre Konsumenten auf ein härteres Leben ohne Glamour vor. Kunststoffmonster in allen denkbaren Ausprägungen starren von den Wänden, eine Kettensäge von Bosch für die Kleinkindhand, eine "Parkgarage mit Licht und Sound". Das meiste Kaufpublikum jedoch findet sich bei den unabdingbaren Gebrauchsgegenständen für die Kleinen, bei den Kinderkarren, Stühlen und Kloaufsetzern, die ein Reinfallen und womöglich Runterspülen des windelentwöhnten Nachwuchses verhindern sollen. Zwei werdende Eltern umrunden die ausgestellten Kinderwägen. Rosa, hellblau und Blümchenmuster sucht man hier vergebens, im Trend liegen deutlich gediegene laptopfarbene Gefährte. Die Frau deutet auf ein elegantes Mobil in grauem Lederimitat zu 529 Euro, man gönnt sich ja sonst nichts, und vielleicht kann man es ja doch noch ein zweites Mal nutzen. Der Gatte zuckt die Schultern, wirft ein: "Aber Du wolltest doch eigentlich einen Jogger nehmen...?" Eine beinahe makabre Vorstellung, ist doch abzusehen, daß Mutti auch postnatal die 100 Kilo-Grenze kaum unterschreiten wird. Die dreirädrigen Karren zum abgefederten Dauerlauf mit Kind werden sehr gern genommen, klärt eine Verkäuferin beratend auf, weil die auch beim Treppensteigen echt praktisch sein sollen. Die Frage einer dazugetretenen Jugendlichen nach einem Buggy im Tarnfarben-Look muß sie verneinen. Ein weiteres Pärchen hat mit deutscher Gründlichkeit geshopt, der Wagen ist voll, entspannte Mienen künden die Freude daran. Was braucht man nicht alles für das baldige Glück! Wegwerflätzchen für oben, Feuchttücher für unten, ein Pflegeset mit Shampoo, Badezusatz, Tages- und Nachtcreme, ein Multifunktionsspielcenter mit unzähligen Farb- und Geräuscheffekten, ein babyphone für die Sicherheit, Säuglingsersatznahrung, Schnuller und Zweitschnuller, ein Strampler mit "Mama loves me"-Aufdruck. Ganz billig ist das nicht, kein Wunder also, wenn der Wunsch nach Kindern immer geringer wird.

Auf einer Freifläche wird eine sogenannte Gehhilfe am lebenden Objekt ausprobiert: Wer je ein etwa halbjähriges Kleinkind in einem solchen "Music Walker" gesehen hat, wird diesen Anblick nie vergessen: Das Kleine mit butterweichen Knien, die noch nicht einmal krabbeln wollen, sitzt in einem fahrbaren runden Ding und eiert durch unkoordinierte Beinbewegungen durch den Raum. Die Händchen können nicht anders, als auf einer Konsole liegen zu kommen, deren Berührung blöden Lärm unterschiedlicher Art hervorruft. Das Kind leidet stumm, weil sprachlos durch Reizüberflutung, die Eltern freuen sich an dem Anblick solch grotesker Komik, den sie nicht umhin kommen, "süß" zu nennen. Immerhin ist das dann wenigstens ein bißchen so, als würde der Nachwuchs schon laufen, also aus dem "Gröbsten raus sein". Doch wehe, draußen weht ein kalter Wind, der unangenehm riecht, das Gröbste kommt noch ...


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen