© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Künstliche Ereigniswelt
Die FDP und das Ende des Antisemitismusstreits
Michael Wiesberg

Mit einer Entschuldigung, die den "jüdischen Mitbürgern, aber nicht Herrn Friedmann" gilt, scheint der sogenannte Antisemitismusstreit, der Jürgen Möllemann und seiner FDP über Wochen hin die Aufmerksamkeit der veröffentlichten Meinung sicherte, sein vorläufiges Ende gefunden zu haben. Möllemann hat Wort gehalten. Er trete eher aus der FDP aus, als sie sich bei Michel Friedmann, dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, zu entschuldigen. Friedmann, dem Möllemann nicht zu Unrecht einen "unerträglichen Habitus" vorhält, habe eine Entschuldigung "gar nicht verdient".

Die Gradlinigkeit, mit der Möllemann seiner Meinung Ausdruck verliehen hat, ist bei Vertretern der politischen Klasse in Berlin selten geworden. Diese Gradlinigkeit kommt bei der Bevölkerung gut an und könnte der FDP entscheidende Prozente einbringen. Eines sollte freilich nicht übersehen werden: die neoliberale Züge tragende FDP, der Möllemann als Vize-Parteichef mit vorsteht, hat mit den Vorstellungen, die Konservative hegen, wenig gemein. Vor diesem Hintergrund bleibt deshalb eben doch der Verdacht, daß Möllemanns und auch Westerwelles Vorpreschen in Richtung Protestwählerpotential kalkuliert gewesen war. Die FDP freilich behauptet, sie sei von der Antisemitismusdebatte überrascht worden.

Wie dem auch sei. Vieles in diesem Streit kann dem zugeschlagen werden, was in den USA "policy making" genannt wird. Die Medien wurden im Verlauf dieses Streites mehr und mehr vom Vermittler zum politischen Akteur. Sie zogen das Thema hoch und prangerten Möllemann an, rechtspopulistischen Tendenzen das Wort zu reden. Es spricht für Möllemann, daß er den wochenlangen Dauerbeschuß politisch überlebt hat.

Nach Manfred Zach, dem ehemaligen Pressesprecher der baden-württembergischen Landesregierung, sind "öffentliche Informationen" nahezu "gesetzfreie Güter". Ihre Verbreitung bleibe dem freien Spiel der Kräfte überlassen, über ihren Erfolg entscheide der Markt. Politische Verkäufer - wie zum Beispiel Möllemann - und publizistische Informationshändler lebten in einem "Reservat frühkapitalistischen Unternehmertums". Im "freien Spiel der Kräfte" stand Möllemann zuletzt fast allein. Aufgegangen ist das Kalkül der FDP dennoch: der "unberechenbare" Möllemann ist für Protestwähler interessant geworden. Westerwelle, Brüderle, Döring et tutti quanti hingegen zielen weiterhin auf die "Mitte".

Der Fall Möllemann verdeutlicht, daß Politik heute mehr denn je ein Kommunikations- und kein Sachprodukt mehr ist. Nach Peter Radunski, dem langjährigen Wahlkampfleiter der CDU, seien "politische Strategien ohne Kommunikationsstrategien" in der modernen Demokratie undenkbar. Wer eine Politik entwerfe, müsse auch ihre Kommunikation immer mit einbeziehen. So entstehen aus dem Zusammenspiel von Medien und Politik "künstliche Ereigniswelten". Denn nichts anderes als eine "künstlerische Ereigniswelt" (Zach), stellt der "Antisemitismusstreit", der ein Streit ohne Antisemiten gewesen ist, im Kern dar.

Noch etwas anderes aber zeigen die "künstlichen Ereigniswelten", die diese Republik bewegen: wie Recht doch Meinhard Miegel, der Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, hat, wenn er in seinem Buch "Die deformierte Gesellschaft" darauf hinweist, daß die Krise, in der sich der deutsche Staat befindet, in der medialen Öffentlichkeit nicht stattfindet. "Das auffälligste Krisensymptom", schreibt Miegel, sei "die manifeste Verausgabung des Staates. Ob in der Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- der Pflegeversicherung ... überall hißt er (der Staat, d. V.) die weiße Flagge und signalisiert: Ich kann nicht mehr, zumindest nicht wie bisher. (...) Hiermit kapituliere ich vor den überschäumenden Ansprüchen der Bürger."

Mit Blick auf die Kinderarmut individualistischer Wohlstandsgesellschaften stellt Miegel fest, daß diese nicht "die Folge unbeabsichtigter Fehlentwicklungen, die sich durch zusätzliche Kindergartenplätze oder höhere steuerliche Freibeträge beheben ließen" seien. Vielmehr seien sie Ausdruck des "Wesenskern dieser Gesellschaft". Sie eröffne "breitesten Schichten Möglichkeiten, denen gegenüber die Option, Kinder großzuziehen, häufig wenig verlockend erscheint". Das aber bedeute, daß die Kinderarmut anhalten werde, solange diese von der "großen Bevölkerungsmehrheit tief verinnerlichte Gesellschaftsform" bestehen bleibe.

Zur Debatte müßte vor diesem Hintergrund mit Blick auf den 22. September diesen Jahres eigentlich eine Strukturreform der deutschen Demokratie stehen, die die Erhaltungs- und Überlebensinteressen der Deutschen zum alleinigen Maßstab erhebt. Daß statt dessen eine Debatte über den angeblichen Antisemitismus in der FDP wochenlang die Medien bestimme, bestätigt einmal mehr das Diktum des Staatsrechtlers Carl Schmitt, daß der Liberalismus die Negation des Politischen darstelle. Die Sphäre des Politischen stellt nach Schmitt Anforderungen an jedes auf einem konkreten Territorium vorhandene Gemeinwesen, sich in der jeweiligen konkreten politischen Lage zu behaupten. Weder diese Anforderungen, noch wie sie in Zukunft bewältigt werden könnten, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung Deutschlands eine Rolle.


 
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