© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
"Die Deutschen müssen umdenken"

Raimond Maurer, Professor für Alterssicherung, über die Riester-Rente und das Ende des traditionellen Sozialstaates
Jörg Fischer

Herr Professor Maurer, die im Januar 2002 von der Bundesregierung eingeführte staatlich geförderte Altersvorsorge, die "Riester-Rente", erklärt inzwischen nicht mehr nur die Opposition für einen Fehlschlag, auch vielen Finanzexperten gilt sie als "vor dem Aus stehend". Tatsächlich haben von bislang zwei Millionen Deutschen, welche die Rente abgeschlossen haben, angeblich 400.000 ihre Policen bereits wieder storniert, Finanzberater nennen die Rente ein "bürokratisches Monster" und auch im Bundeskanzleramt macht man sich über eine Notfallplanung Gedanken. Ist die große Rentenreform der rot-grünen Koalition bereits nach sechs Monaten gescheitert?

Maurer: Die Frage läßt sich nicht pauschal beantworten, man muß bedenken, daß sich das Modell Walter Riesters auf ganz verschiedene Ebenen der Altersvorsorge bezieht. So zerfällt das Modell zum Beispiel in eine sogenannte Ansparphase und eine sogenannte Entnahmephase. Zudem muß man zwischen individuellen Ansparkonten und betrieblicher Altersvorsorge trennen. Die Klagen, die man derzeit der Presse entnehmen kann, beziehen sich auf die Ansparphase im Rahmen der individuellen Altersvorsorgeverträge. Da gibt es nämlich derzeit das Problem, daß die Kunden - und das ist schließlich neu - aus einer ganzen Reihe von Angeboten - sogenannten Produkten - wählen können. Das sind die Menschen bislang nicht gewöhnt. Dazu kommt, daß die Kosten für die Produkte, sprich die Preise, welche die verschiedenen Anbieter verlangen, zunächst recht hoch erscheinen mögen, woraus natürlich eine gewisse Unzufriedenheit resultiert. Daraus nun aber den Schluß zu ziehen, daß die gesamte kapitalgedeckte Altersvorsorge damit gescheitert ist, halte ich für etwas weit hergeholt.

Sie gestehen aber ein, daß gehandelt werden muß?

Maurer: Ja, aber zunächst einmal müßten etwa die Effizienzpotentiale - besonders im Bereich der Informationstechnologie - der verschiedenen Anbieter ausgenützt werden , oder es kann zum Beispiel die Frage der Abrechnung zwischen privaten Anbietern und Behörden diskutiert werden, bevor man gleich das Scheitern der Riester-Rente erklärt.

Das bisherige staatliche Rentensystem erzeugt zwar Kosten durch seine bürokratische Verwaltung, es gibt aber kein zusätzliches Gewinnstreben, wie das bei einem Privatunternehmen üblich ist. Füllen die Riester-Rentner also nicht zusätzlich die Taschen der privaten Finanzdienstleister?

Maurer: Ein staatliches System arbeitet nur theoretisch zum Selbstkostenpreis, tatsächlich fehlen wichtige Faktoren, wie etwa Innovation oder Flexibilität, um das System auf der Höhe der Zeit zu halten. Dazu kommt, daß ein staatliches Umlagesystem immer bereits die nächste Generation im voraus belastet, was bedeutet, daß die Höhe der Beiträge steigt, sobald die Zahl der Beitragszahler schwindet - das ist schließlich auch der Grund, warum das bisherige System nicht mehr durchhält. Die Vorteile eines privaten Systems, bei dem jeder Einzahler die Kontrolle über sein Geld hat, liegen also auf der Hand. Eine Rückkehr zum Generationenvertrag kann es nicht geben. Das Problem sehe ich ehrlich gesagt nicht im privaten Rentensystem, sondern darin, daß die Deutschen noch nicht an ein solches gewöhnt sind.

Das ist der entscheidende Punkt: Im staatlichen Denken der Deutschen spielt das Sozialstaatsprinzip eine große Rolle, und seit dem Wirtschaftswunder haben wir die traditionelle deutsche Sparmentalität durch eine Konsummentalität ersetzt. Solche Faktoren mögen irrational sein, können aber doch ein zu akademisches Rentensystem in der Praxis zum Scheitern bringen.

Maurer: Man muß zugunsten Walter Riesters doch einige Gesichtspunkte berücksichtigen: Zum Beispiel, daß diese Reform mit sehr kleinen Volumina startet - es geht bekanntlich um gerade mal ein Prozent des Gehaltes. Oder, daß die auf den ersten Blick hohen Kosten, die viele Bürger mit ihrer traditionellen Anschauung von Rentenversorgung verschrecken mögen, natürlich darauf zurückzuführen sind, daß die Produkte und ihr Vertrieb erst einmal entwickelt werden müssen. Wir haben es also mit Investitionskosten zu tun, die aber mit der Zeit, wenn die Produkte erst einmal eingeführt sind und die Volumina steigen, sinken werden. Natürlich wird das nicht jeder Anbieter mitmachen können - das ist selbstverständlich eine betriebswirtschaftliche Entscheidung.

Das Problem ist die Kompliziertheit der Riester-Rente: etwa das Abstufungssystem oder die schwierige Integration bereits bestehender privater Altersvorsorgeverträge. Der private Ansatz mag richtig sein, ist aber vielleicht die Riestersche Gestaltung des Gesetzes unzulänglich?

Maurer: Was die Ansparphase im Bereich der individuellen Altersvorsorge betrifft, gibt es zweifellos Möglichkeiten zur Vereinfachung. Allerdings resultiert die Kompliziertheit des Systems vor allem aus dem Anspruch, gerecht zu sein. Wie regelt man etwas einfach, das auf alle Eventualitäten Rücksicht nehmen soll? Und vor allem: Wie überprüft man es effizient und effektiv? Im übrigen glaube ich nicht, daß es notwendig ist, daß die Menschen das Angebot ganz und gar durchschauen. Das ist schließlich bei anderen Produkten auch nicht der Fall. Wenn sie sich ein Auto kaufen, kennen sie auch nur Typ, Farbe, Ausstattung und Motorleistung, sie durchschauen die Apparate aber nicht bis ins Detail. Es reicht, wenn der Verbraucher lediglich eine Vorstellung vom Funktionieren des von ihm gekauften Produktes gewinnt. Das Problem ist also nicht die mangelnde Durchschaubarkeit, sondern die Tatsache, daß die Menschen sich noch nicht an solche Produkte gewöhnt haben. Hier könnten sich im übrigen Rating-Agenturen etablieren, welche die Produkte für den Verbraucher systematisch unter die Lupe nehmen und vielleicht auch Empfehlungen aussprechen. Auch die Arbeitgeber können hier - möglicherweise in Zusammenarbeit mit den Personalbetriebsräten - eine unterstützende Funktion übernehmen. Ich bin zuversichtlich, daß all diese Angebote früher oder später auch noch entstehen werden.

Das heißt, der Markt wird die Probleme schließlich regeln?

Maurer: Ja, sechs Monate nach Einführung der Reform schon zu einem abschließenden Urteil zu kommen, ist einfach zu früh. So scheuen ja derzeit selbst noch die Anbieter oftmals die betriebswirtschaftliche Investition, die notwendig ist, um an diesen Produkten partizipieren zu können. Es hilft aber nichts, die Anbieter werden schließlich doch das Risiko tragen müssen. Auch dieser Widerstand gehört zum "natürlichen" Anfangswiderstand und wird eines Tages überwunden werden.

Die zweite Phase des neuen Rentensystems betrifft die Auszahlung der Leistungen: Die bisherige gesetzliche Rentenversicherung hat nicht nur die Altersvorsorge, sondern auch Witwen- und Waisen-, Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsvorsorge mit abgedeckt und ist sogar bei Arbeitslosigkeit und Krankheit formal weiterbezahlt worden. All das bietet die private Altersvorsorge natürlich nicht. Wie können diese Nachteile ausgeglichen werden?

Maurer: Bitte rufen Sie sich die Gründe für diese Leistungskürzungen durch die Riester-Rente ins Gedächtnis: Das bisherige System, das wir in Deutschland gewöhnt waren, und das Sie eben beschrieben haben, ist einfach nicht mehr finanzierbar!

In Zukunft werden aber zum Beispiel Gesundheitsuntersuchungen verlangt werden, die dazu führen, daß Menschen, die gesundheitlich nicht tiptop sind, eine Versicherung gar nicht oder nur noch mit Aufschlägen bekommen: Es droht eine soziale Auslese.

Maurer: Das ist in der Tat ein Problem, aber wir können die bisherigen Leistungen einfach nicht aufrechterhalten, denn wer soll das bezahlen? Wir haben gemeinhin keinen Blick dafür, was all diese Verpflichtungen, die wir bislang dem Rentensystem aufgebürdet haben, für die Rentenkasse bedeuten. Und deshalb wird der Eingriff in die Leistungen, den die Riester-Rente darstellt, wahrscheinlich nicht die letzte Leistungskürzung sein, die wir verkraften werden müssen. Das müssen wir den jungen Leuten ehrlich sagen.

Eine soziale Auslese durch ein privates Finanzierungssystem bleibt mit dem Prinzip der Solidargemeinschaft, wie sie unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis entspricht, unvereinbar.

Maurer: Ich will diese Probleme weder abstreiten noch kleinreden, doch nennen Sie mir die Alternative! Die Deutschen werden ihre bisherigen gesellschaftlichen Ansichten überdenken müssen, die Finanznot läßt ihnen gar keine andere Wahl.

Der Staat wird dieses neue Prinzip gar nicht wirklich durchsetzen können. Die Leistungen auch der Riester-Rente werden zumindest für die untere Einkommensschicht zu gering sein. Die Folge werden soziale Transferzahlungen des Staates sein, die Kosten bleiben ihm also erhalten.

Maurer: Die Idee der Riester-Rente ist bekanntlich, die Reduktion bei der gesetzlichen Rente durch die Leistung der Kapitalmärkte zu kompensieren. Und man vertraut darauf, daß die Ertragsstärke der verschiedenen Kapitalmärkte langfristig - inklusive des Zins und Zinseszins - diesen Verlust sogar überkompensieren kann. Dennoch kann der Staat daneben noch Unterstützungszahlungen leisten, das widerspricht nicht dem System.

Aber verursachen diese nicht über kurz oder lang eine neue Kostenexplosion?

Maurer: Ich bin kein Politiker, den richtigen Mittelweg zu finden, ist deren Aufgabe.

Welche Probleme sehen Sie in der Auszahlphase der Riester-Rente?

Maurer: Was die individuelle Vorsorge angeht, so ist in der Ansparphase ein echter Produktwettbewerb vorhanden, ohne irgendwelche Privilegien für einen Anbieter. In der Auszahlphase dagegen halte ich die Versicherungsprodukte gegenüber anderen Leistungen wie Banksparplänen oder Investmentsparplänen immer noch für bevorzugt, denn es ist vorgesehen, daß man spätestens mit 85 Jahren das Geld in eine private Leibrente zu investieren hat. Tatsächlich handelt es sich bei privaten Leibrenten ja auch um sehr sinnvolle Produkte, da sie ein Leben lang eine recht konstante Geldversorgung gewähren. Aber sie haben auch Nachteile, zum Beispiel besteht nicht die Möglichkeit, sie zu vererben. Aller Erfahrung nach legen die Menschen aber großen Wert auf diese Möglichkeit. Dies nun von Staats wegen auszuschließen, halte ich deshalb für problematisch. Darüber hinaus sind Leibrenten aufgrund ihres kollektiven Charakters sehr unflexibel. Investmentfonds-Entnahmepläne sind dagegen sehr flexibel und bieten zudem Vererbungspotential. Was die Auszahlphase betrifft, teile ich also die vielfach geäußerte Kritik. Hier gibt es in der Tat noch Privilegien und Restriktionen, die unbedingt noch einmal diskutiert werden müssen. Ähnliche Kritikpunkte lassen sich auch für die betriebliche Altersvorsorge anführen. Warum sind zum Beispiel echte Investmentfonds-Sparpläne - konstruiert nach den 401(k)-Plänen amerikanischen Typs - für die betriebliche Altersvorsorge nicht zugelassen?

Auch die Bausparkassen monieren, nicht ausreichend beachtet worden zu sein.

Maurer: Das Problem ist, daß privates Wohnungseigentum kein reines Finanzprodukt, sondern ein Mischprodukt ist, mit dem sie einerseits sparen, andererseits in gewisser Weise konsumieren. Außerdem ist der Kauf eines Hauses eine riskante Investition, denn der Wert des Hauses ist vom Standort abhängig, ja unter Umständen sogar von den familiären Verhältnissen - bedenken Sie, welch hohe Scheidungsquote wir in Deutschland haben, und wer sein Haus unter Scheidungsbedingungen verkaufen mußte, weiß wahrscheinlich, wovon ich rede. Der Sinn solch privater Produkte ist es, breite Bevölkerungsschichten an den Ertragschancen der Kapitalmärkte partizipieren zu lassen. Das sind Mittel zur Schließung von Lücken im gesetzlichen Rentensystem. Wenn nun noch Regelungen gefunden werden müßten, das private Wohnungseigentum über das bisherige Maße hinaus zu fördern, würde das System unübersehbar kompliziert werden.

Sie sprechen von der Partizipation an der Kraft der Kapitalmärkte. Allerdings geraten auch die Kapitalmärkte immer wieder in die Krise - zuletzt traf es die allseits hochgelobte "new economy".

Maurer: Gemeint sind nicht nur die Aktienmärkte, sondern genauso Märkte für festverzinsliche Wertpapiere oder Märkte für Immobilienanlagen, sofern sie im Rahmen von Portfolios verbrieft sind. Allerdings lassen die Aktienmärkte natürlich die höheren Renditen erwarten. Diese Erträge laufen über dreißig, vierzig Jahre. Über solch einen Zeitraum lassen sich die Risiken weitgehend glätten, insbesondere, wenn man seine Aktien noch mit Risikostabilisatoren wie Zinstiteln und Immobilienfonds kombiniert. Menschen, die auf den internationalen Aktienmärkten hereingefallen sind - Stichwort new economy - sind Leute, die kurzfristig viel, viel Geld machen wollten, aber keine redlichen Kleinaktionäre. Die new economy hat nichts mit Altersvorsorge zu tun. Im übrigen haben die Anbieter dem Anleger gegenüber eine Garantie abzugeben. Da die Anbieter somit zum Teil dem finanziellen Risiko mit ausgesetzt sind, werden diese nur sorgfältig konzipierte, seriöse Produkte anbieten, die nicht zu riskant sind.

Ist ein Rentensystem mit einem großen Freiwilligkeitsfaktor nicht zu risikoreich, weil zu viele Menschen es einfach ignorieren und im Alter ohne ausreichende Absicherung dastehen? Ist es deshalb nicht sinnvoll, die Riester-Rente später einmal in eine verpflichtende private Altersvorsorge umzuwandeln?

Maurer: Das wäre der neuerliche Schritt in ein großes Zwangssystem. Man sollte Anreize geben, Kosten reduzieren, Aufklärung betreiben. Zwangsmaßnahmen jedoch unterdrücken nur den Wettbewerb und hemmen die Innovationskraft.

Sehen wir trotz Riester-Rente nicht tatsächlich einer großen Altersarmut in Deutschland entgegen?

Maurer: Nein!

 

Prof. Dr. Raimond Maurer geboren 1964 in Viernheim / Hessen. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft lehrte er an den Universitäten Mannheim und Frankfurt.Seit 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Investment, Portfolio-Management und Alterssicherung am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt/Main.

 

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