© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Weniger Geld für mehr Leistung
Gesundheitspolitik: Durch die unterschiedliche Honorierung der Kassenärzte ist die ambulante Versorgung akut gefährdet
Jens Jessen

Was für Ärzte, Krankenhäuser, Arzneimittel und all die anderen se-gensreichen Dinge aus dem Füllhorn der Krankenkassen finanziert wird, können diese auf zwei Stellen hinter dem Komma penibel genau vorlegen. Was die Erkrankungen, insbesondere chronische Erkrankungen wie Diabetes, Atemwegserkrankungen, Bluthochdruck oder Herzinsuffienz kosten, übersteigt die Kenntnisse der Kassen.

Nach wie vor fehlt eine Datentransparenz im Gesundheitswesen, die es ermöglichen würde, vor Einführung neuer Therapiemaßnahmen die dadurch entstehenden Kosten zu berechnen. Bundesgesundheitsministerin Ursula Schmidt (SPD) will deshalb mit einem Datentransfergesetz dafür sorgen, daß nicht mehr wie bisher Reformen ins ideologisch Blaue, sondern auf fundierten Zahlen gemacht werden. Was für jeden Handwerker, jeden Physiotherapeuten und jeden Dienstleister klar ist, daß er für eine bestimmte Leistung einen vorher genau zu kalkulierendes Entgelt erhält, gilt für Vertragsärzte in Deutschland nicht.

Der Arzt weiß am Ende jeden Quartals genau, welche Leistungen er erbracht hat. Der Arzt weiß am Ende eines Quartals aber nicht, was er rund ein halbes Jahr nach der Leistungserbringung von seiner Kassenärztlichen Vereinigung als Honorar überwiesen bekommt. In den letzten Jahren ist oft der Fall eingetreten, daß er bei mehr Leistungen weniger auf seinem Konto hatte. Das liegt an dem Punktsystem in Deutschland. Jeder ärztlichen Leistung ist in einer Gebührenordnung - Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM) - eine bestimmte Punktzahl zugeordnet. Alle Leistungen in diesem EBM stehen in einer bestimmten Relation zueinander, die geprägt ist durch den Aufwand für das Erbringen der Leistung und die Qualität.

Der Arzt rechnet am Ende jeden Quartals mit der für ihn zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung ab, indem er die erbrachten Leistungen mit ihren EBM-Ziffern aufführt. Die Summe der Punkte, die sich daraus ergibt, sagt noch nichts aus über die Honorarsumme, die der Arzt erhält. Die ist davon abhängig, wieviel Punkte alle Ärzte in diesem Quartal zur Abrechnung eingereicht haben. Die Kassenärztliche Vereinigung erhält nämlich von den Kassen eine sogenannte Kopfpauschale für jeden Versicherten, die vorher von der Kassenärztlichen Vereinigung mit den Landesverbänden der Krankenkassen nach den gesetzlichen Vorgaben des fünften Sozialgesetzbuches ausgehandelt worden ist: Eine Steigerung der Kopfpauschalen ist nur im Rahmen der Steigerung der beitragspflichtigen Einnahmen der Kassenmitglieder möglich. Mit dieser Kopfpauschale sind alle Leistungen der Ärzte abgegolten.

Aus der Summe der Kopfpauschalen werden zwei Honorartöpfe gespeist. Der eine aus den Gesamtvergütungen der zwölf Ersatzkassen (BEK, DAK, KKH usw.), der andere aus den Gesamtvergütungen der Ortskrankenkasse, Betriebskrankenkasse, Innungskrankenkasse, Landwirtschaftlichen Krankenkasse. Die Kopfpauschalen der Ersatzkassen sind in der Regel erheblich höher als die der anderen Kassen. Damit ist auch der Punktwert aus Leistungen für Ersatzkassenpatienten höher als der aus Leistungen für die anderen Kassen. Je mehr Versicherte von den Ersatzkassen zum Beispiel zu den Betriebskrankenkassen wechseln, desto niedriger ist der Punktwert. Gleiche Leistung führt so nicht zu gleicher Honorierung.

Es gibt aber noch eine Besonderheit, die das Prinzip der Gleichheit durchbricht. Das Gesamthonorar für den Arzt ist das Produkt aus Punkten mal ermitteltem Punktwert. Allerdings nur bis zu einer bestimmten Grenze. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß Ärzte dem Punktwertverlust mit seiner Auswirkung auf das Honorar dadurch begegnen, daß sie mehr Leistungen erbringen und abrechnen. 1997 wurden deshalb Praxisbudgets eingeführt. Für die verschiedenen Arztgruppen sind Begrenzungen der Punktzahl pro Patient festgelegt.

Wird diese Punktzahl überschritten, werden die überschießenden Punkte mit einem niedrigeren Punktwert vergütet. Wenn ein Internist pro Patient Leistungen mit 450 Punkten erbringen kann, ein Orthopäde Leistungen mit 600 Punkten, erhalten die Ärzte bei jeweils 500 Patienten den errechneten Punktwert in vollem Umfang vergütet - bis zu 22.500 Punkten bzw. 30.000 Punkten.

Der Punktwert von 4 Cent wird bei einer Überschreitung der vorgegebenen Punktzahl auf 3 oder 2 Cent gesenkt. Das kommt auf den sogenannten Honorarverteilungsmaßstab an, der von der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung beschlossen wird. Dadurch soll einer Ausdehnung der Praxisleistungen Einhalt geboten werden. Die Schwankung des Punktwerts soll auf diese verringert werden. Dennoch sind noch Punktwertschwankungen zu beobachten, die immer mehr Praxen gefährden. Das gilt insbesondere in den neuen Ländern. Dort liegt der Punktwert bei weniger als 80 Prozent des Punktwerts in den alten Ländern. Obwohl die Arztdichte in den neuen Ländern geringer ist als im Westen, und deshalb die Zahl der Patienten pro Praxis größer ist als in Westdeutschland, liegt das Honorar in den neuen Ländern erheblich unter dem in den alten Ländern. Eine Vielzahl von Praxen steht deshalb in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen vor dem Aus. Das ist auch die Ursache dafür, daß die Besetzung von Hausarztpraxen in den neuen Ländern zu Schwierigkeiten führt, da der ärztliche Nachwuchs nicht mehr bereit ist, sich niederzulassen. Die Sicherstellung der ambulanten Versorgung ist inzwischen akut gefährdet.

Die unterschiedliche Honorierung der Vertragsärzte in Deutschland - für ein und dieselbe Leistung - nach Kassen, nach Leistungsumfang und nach geographischer Lage, entwickelt sich immer mehr zu einem Spiel mit dem Feuer. Aus Hessen ist bekannt, daß 25 Prozent der neu approbierten Ärzte nicht mehr ihrer Ausbildung entsprechend im Krankenhaus oder in der ambulanten Versorgung tätig werden, sondern direkt in die Industrie oder Verwaltung abwandern. Wer will ihnen das verdenken.


 
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