© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Aufstand im sozialistischen Paradies
17. Juni 1953: Am Prestigeobjekt der proletarischen Diktatur entfachte sich der Volkszorn
Doris Neujahr

Der Schock, den der Aufstand vom 17. Juni 1953 bei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) auslöste, war um so größer, weil er ausgerechnet von den Bauarbeitern der Stalinallee - der heutigen Karl-Marx-Allee - in Berlin ausging. Denn an diesem Ort sollte der Sozialismus auf deutschem Boden, nachdem er am 7. Oktober 1949 mit der DDR-Gründung einen staatlichen Rahmen erhalten hatte, als Gesellschaft begründet werden. In der rund zwei Kilometer langen, als Wohn- und Repräsentationsmeile konzipierten Allee sollte das neue, sozialistische Lebensgefühl anschaulich werden.

1949 hatte zunächst Hans Scharoun die Pläne für den Wiederaufbau dieser schwer kriegszerstörten Gegend im Berliner Osten übernommen. An den sachlichen Stil der zwanziger Jahre anknüpfend, entwarf er eine offene, aufgelockerte Siedlungsstruktur mit fünfgeschossigen Wohngebäuden. Doch nur zwei dieser Häuser wurden tatsächlich fertiggestellt.

Denn mittlerweile hatte sich eine DDR-Studiendelegation aus Funktionären und Architekten mit den "Errungenschaften" des sowjetischen Städtebaus vertraut gemacht. Auf dem 3. SED-Parteitag 1950 wandte Walter Ulbricht sich gegen die "kosmopolitische Phantasien" der Scharounschen Moderne. "Wir wollen in Berlin keine amerikanischen Kästen und keinen hitleristischen Kasernenstil mehr sehen." Er forderte, "durch monumentale Bauten die Kraft und die Stärke des Aufbauwillens und der großen Zukunft Deutschlands" und "das Besondere unserer nationalen Kultur zum Ausdruck (zu) bringen".

Es wurden "Sechzehn Grundsätze des Städtebaus" verabschiedet, die einen unmittelbaren Zusammenhang von Architektur und einem totalitär anmutenden, gesellschaftspolitischen Entwurf herstellten: "Entscheidend ist die Zusammenfassung der wesentlichsten Faktoren und Forderungen des Lebens."

Der Grundstein für die Stalinallee wurde am 8. Februar 1952 gelegt. Das Vorbild der Moskauer Wohnbauten aus der Stalinzeit ist unübersehbar. Es entstanden riesige Wohnblöcke mit bis zu neun, am Straußberger Platz sogar mit 13 Etagen. Die Allee ist vor allem mit dem Namen des Architekten Hermann Henselmann verbunden, der sich ursprünglich gegen diese Bauweise gesträubt hatte, dann aber seinen ganzen Ehrgeiz darin investierte, die politischen Vorgaben so gut wie möglich umzusetzen.

Die Stalinallee sollte "sozialistisch im Inhalt und national in der Form" sein. Die Ornamentik und Formensprache war voller eklektischer Anspielungen an Neugotik und Neobarock, vor allem aber an den Klassizismus. Die beiden Türme des Frankfurter Tores, die das Entree zur Allee bilden, zitieren die Türme des Deutschen und Französischen Doms am Gendarmenmarkt. Diese Formensprache entsprach durchaus dem Empfinden und den Bedürfnissen der Menschen, die nach Krieg und Zerstörungen keine weiteren Brüche wollten, sondern Sicherheit im Vertrauten suchten.

Wirtschaftlich war die DDR mit dem Projekt überfordert. Deshalb wurde Ende 1951 das "Nationale Aufbauwerk" ins Leben gerufen. Neben den regulären Mauererkolonnen leisteten Zehntausende mehr ober weniger freiwillig unbezahlte Feierabendschichten. Eine "Aufbaulotterie" trug zur Finanzierung bei, die Presse appellierte an die Bürger, dafür drei Prozent ihres Einkommens zur Verfügung zu stellen. Karl-Eduard von Schnitzler interpretierte die Mobilisierung als Beweis für die Überlegenheit des Sozialismus: "Das ist möglich, weil wir eine antifaschistische demokratische Ordnung haben (...). Das ist möglich, weil man Menschen für Werke des Friedens begeistern kann, weil man ihnen große Leistungen für gute, friedliche Zwecke abverlangen kann, weil uns keine Ausländer beschnüffeln und gängeln, sondern weil uns Freunde, die vor uns als ihren Freunden keine Geheimnisse kennen, ihre Erfahrungen schenken und ihre Unterstützung gewähren."

Für die entstandenen Wohnbauten bürgerte sich das Wort "Arbeiterpaläste" ein. Das war einerseits spöttisch, aber auch anerkennend gemeint. Die luftige Deckenhöhe, der helle, sonnige Zuschnitt der Wohnungen, Fernheizung, Gegensprechanlage, Telefon, Müllschlucker, Einbauküche, die verwendeten, hochwertigen Materialien setzen bis heute Maßstäbe. Eine Drei-Raum-Wohnung nahm immerhin 96 Quadratmeter ein. Die Erdgeschosse waren für Läden und Restaurants vorgesehen.

Anders als die späteren Plattenbauten lud die Stalinallee zum Träumen ein. "Vertausendfachen Sie die großzügige Ausstattung der Straße, den technischen Komfort der Häuser, die schönen Ladengeschäfte, Sozialeinrichtungen und Gaststätten, und Sie gewinnen eine ungefähre Vorstellung von dem beglückenden Leben in den sozialistischen Wohnvierteln der Zukunft", schwämte 1954 ein Augenzeuge. In Wahrheit blieb die Stalinalle eine Ausnahme. Vergleichbare Wohnstraßen wurden - im verkleinerten Umfang - noch in Rostock, Leipzig, Magdeburg und Eisenhüttenstadt (Stalinstadt) errichtet, doch die Zukunft des DDR-Bauwesens lag im seelenlosen "Kasernenstil" der Plattenbauten, deren Ausstattung deutlich hinter den Standards sogar der zwanziger und dreißiger Jahre zurückblieb.

Die Arbeit an der Stalinallee und die sie begleitende Propaganda hatten eine unvorhergesehene Wirkung. Am 16. und 17. Juni 1953 nahmen die Arbeiter die "führende Rolle in der Gesellschaft", die ihnen die Ideologie offiziell zuerkannte, einfach beim Wort und richteten sie gegen die SED. Das proletarische Bewußtsein, das sich hier manifestierte, fand zwölf Jahre später eine künstlerische Personifizierung: In dem von Manfred Krug gespielten, kraft- und energiestrotzenden, selbstbewußten Bauarbeiter Balla im Defa-Film "Spur der Steine". Der Film wurde gleich nach seiner Uraufführung verboten.

Letztlich wurden die Wohnbauten vor allem von Parteikadern und staats-treuen Bürgern bezogen. Es bedeutete Privileg und Belohnung, hier zu wohnen. Die Mieter verfügten über einen behaglichen Privatbereich, andererseits versäumte der Staat nicht, sein Reglement einzuführen. In den Häusern gab es Friedenskomitees, Parteigruppen, Hausgemeinschaften. An den Feiertagen sorgten Demonstrationen und Veranstaltungen für Lärm. Noch in den achtziger Jahren konnte es passieren, daß ein zorniger Hausmeister am 7. Oktober frühmorgens Sturm klingelte und die verschlafenen Bewohner aufforderte, endlich ihre Fenster zu beflaggen. Die Straße blieb bis zum Ende der DDR ein Politikum.

Der erste Bauabschnitt wurde 1958 beendet, der zweite 1965. In dem neuen, näher zum Alexanderplatz gelegenen Teil wurde der offiziöse Charakter zurückgenommen. Es entstanden pavillonartige, transparente Bauten, Kinos, Restaurants, die teilweise Eleganz, Leichtigkeit und Offenheit verströmten und den Besuchern und Flaneuren Gelegenheit gaben, sich selbst als Mittelpunkt und nicht mehr als Teil einer Staatsinszenierung zu fühlen. Die "Mokka-Milch-Eisbar" am Kino "International" wurde legendär und zum Treffpunkt für unangepaßte Jugendliche. Damit zog sie die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit auf sich.

Die Versuche einer freien Architektursprache brachen sich am Selbstverständnis des Staates, dem frei sich bewegende Menschen ein Greuel waren. Der 1976 - am Ort des 1950 gesprengten Stadtschlosses - fertiggestellte "Palast der Republik" nahm die letzten utopischen Verheißungen zurück. Die abgedunkelte Glashaut erinnerte stets daran, daß dies ein Gebäude der Staatsmacht und kein freier Treffpunkt der Gesellschaft war. Innen und Außen waren klar getrennt, und da man problemlos heraus-, aber nicht hineinschauen konnte, waren die Besucher gegenüber den Spaziergängern privilegiert. Der beschränkte Kartenverkauf, die Schließung während der Volkskammertagungen, Kongresse, Veranstaltungen sowie die diskrete Allgegenwart der Sicherheitsorgane wiederum demonstrierte den Besuchern, daß der Zutritt keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk war, das man sich durch Wohlverhalten verdienen mußte. Gewiß waren die Foyers und Treppenhäuser von großzügiger Weite, doch die aufgehängten Gemälde unterzogen den Besucher zugleich einem politischen Lehrprogramm.


 
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