© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/02 14. Juni 2002

 
Wieder im Blickpunkt
Das frühere Königsberg und sein Umland werden zum Störfaktor in der europäischen Politik
Michael Schubert

Die Abriegelung zum militärischen Sperrgebiet ließ das nördliche Ostpreußen zusammen mit der Hauptstadt Königsberg nach 1945 wesentlich aus dem politischen Bewußtsein Mitteleuropas verschwinden. Und selbst die Öffnung des Gebietes, der nachmaligen Kaliningradskaja Oblast, in der späten Gorbatschow-Ära 1991 war im allgemeinen kein Anlaß dazu, sich mit diesem seltsamen Nachkriegsgebilde zu beschäftigen, dessen Grenze nur 550 Kilometer von Berlin entfernt liegt, abgesehen vielleicht von der naturgemäß immer geringer werdenden Zahl von Heimwehtouristen und von dort stammenden Vertriebenen, die anfänglich noch recht rege einen aufkeimen wollenden Tourismus stützten.

Doch jetzt gerät der nördliche Teil der ehemaligen preußischen Provinz Ostpreußen in den Brennpunkt der aktuellen europäischen Prozesse. 1945 der westlichste Zipfel der Sowjetunion, an den östlich die Litauische Sozialistische Sowjet Republik und südlich die Volksrepublik Polen anschloß, war die Kriegsbeute des "Nishnij Pruski", des Nieder-Preußens (wie es topographisch auf manchen russischen Karten heißt), nicht zur Sowjetrepublik erklärt, sondern direkt der Moskauer Zentralverwaltung unterstellt worden. Die Autonomie der Baltenrepubliken und Weißrußlands nach 1991 ließ auf diese Weise das Gebiet, das in den Ausmaßen etwa der Größe Schleswig-Holsteins entspricht, in eine isolierte geopolitische Lage gelangen.

Die Kriegsbeute untersteht direkt Moskau

Die knapp eine Million Einwohner werden jetzt von besonderer Unruhe erfaßt, denn ab 2004 werden die Nachbarn Polen und Litauen zur EU gehören und die Region, die ohnehin bereits unter dem starken sozialen Gefälle zu den Nachbarn leidet (diese profitieren bereits seit längerem von EU-Hilfsgeldern), wird in eine noch stärkere Isolation geraten, da dann der bis dato visafreie Verkehr zu diesen Ländern ausgesetzt werden wird. Die russische Exklave, etwa 400 Kilometer vom Mutterland abgeschnitten, scheint sich dann zu einem Gefängnis zu entwickeln, aus dem nur diejenigen herausgelangen , die die nötigen finanziellen Mittel für Paß und Visum aufbringen können.

Denn die Visagebühren für die einmalige Ein- bzw. Durchreise nach Polen und Litauen sollen ab kommenden Jahr etwa 20 Dollar betragen, die Erteilung eines Auslandsreisepasses, den zur Zeit nur etwa ein Fünftel der Bewohner der "Oblast" besitzen, kostet auch jetzt schon 20 Euro. Zusätzlich dazu muß bei der Einreise mit dem Pkw eine besondere Versicherung abgeschlossen werden, die abermals mit etwa 20 Dollar zu Buche schlagen wird. Das überwiegende Gros der Bevölkerung wird sich keine Reisen mehr leisten können und auf der "Insel" zurück bleiben, die dann nur noch auf dem See- und Luftweg ohne Zusatzkosten bei der Reise ins russische Kernland verlassen werden kann. Von den Landwegen ist sowieso nur derjenige via Litauen und Weißrußland möglich. Minsk zeigt sich aus einem seltsamen Panslawismus heraus uneingeschränkt mit Moskau und Kaliningrad solidarisch und wird alles für einen reibungslosen und kostenfreien Transit ermöglichen, während Lettland jede Art von Korridor kategorisch ablehnt. Es bleibt darüber nachzudenken, was man in Brüssel tatsächlich mit der Weigerung bezweckt, die von der Kaliningrader Gebietsregierung erbetenen Korridore durch Litauen und Polen (nach Rußland via Ukraine) einzurichten. Angeblich sei auf diese Weise illegalen Zuwanderern aus ganz Rußland Tür und Tor in die EU geöffnet. Das Schengener-Abkommen würde auf diese Weise ungewollt und nicht im Sinne seiner Erfinder mutieren. Doch ohne völkerrechtlich verankerten Korridor wird die ökonomisch-gesellschaftliche Misere des Landes weiter galoppieren. Der Warentransport durch litauisches bzw. lettisches Hoheitsgebiet ist mit so hohen Steuern versehen, daß die Lebenshaltungskosten seit Jahren höher als im russischen Mutterland sind. In den Läden finden sich immer weniger russische Produkte zugunsten litauischer und polnischer Güter, ganz zu schweigen von den wenigen Grundnahrungsmitteln wie beispielsweise Brot, Milch und Bier, die die Kaliningradskaja Oblast selbst herstellen kann.

Wem könnte der wirtschaftliche Zusammenbruch Nord-Ostpreußens nützen? Eine ökonomisch zerschlagene Kaliningradskaja Oblast wird deren Bewohner kaum veranlassen, sich auf die Seite der gespannt auf die Beute lauernden Nachbarn zu schlagen. Auf polnischen und litauischen Karten erscheinen zwar bereits die Namen Krolewiec und Karaliauci anstelle des ungeliebten Kaliningrad, doch es scheint in Warschau und Vilnius bisher nicht bedacht zu werden, welche ökonomisch-ökologische Büchse der Pandora man sich mit einer Einverleibung ans Land ziehen würde.

Der Niedergang des Gebietes ist besonders in ländlichen Regionen erschreckend. Speziell die grenznahen Gebiete weisen einen Grad des Verfalls, der Verwahrlosung und der Zerstörung auf, wie er in Mitteleuropa kaum vorstellbar scheint. Obwohl weite Gebiete vollständig unbewohnt sind, ist doch die Umweltzerstörung in lokalen Bereichen katastrophal. Die östliche Hälfte des früheren Kreises Pillkallen (heute Dobrowolsk) weist in einer Ausdehnung von 300 Quadratkilometer (!) zwischen Schillehnen (Pobedino), Stallupönen (Nesterov) und der Kreisstadt selbst keine einzige Ansiedlung mehr auf; nach der ersten Zerstörung durch die Feuerwalze des Herbstes 1944 wurde der äußerste Osten des alten Ostpreußen in einem zweiten späten Akt des Infernos nach 1945 zum Truppenübungsplatz. Munitionsreste und durch Treibstoff verseuchtes Erdreich schufen eine fast vegetationslose Friedhofslandschaft, die dem Besucher unheimlich und abweisend gegenübersteht. Das Zehlau-Bruch, etwa 30 Kilometer südöstlich von Königsberg gelegen, früher das einzige noch wachsende Hochmoor Deutschlands, diente ebenso als Militärgelande speziell für Übungen in Sumpfgebieten. Die Armee hat sich inzwischen zurückgezogen, doch das Betreten des etwa 25 Quadratkilometer großen Areals ist lebensgefährlich. Munitionsentsorgung und Schadstoffbeseitigung fand nicht statt.

Die zahllosen Kirchenruinen überall im Gebiet sind nur zum geringsten Teil eine Folge des Krieges. Trotz aller Heftigkeit der Kämpfe der Jahre 44/45 blieben zahlreiche Städte und Dörfer weitgehend unbeschädigt. Während der Sowjetzeit wurden zahlreiche Kirchen zu mehr profanen Zwecken wie Lagerhäusern und Turnhallen umfunktioniert, blieben aber in ihrer äußeren Gestalt meist erhalten. Vielerorts setzte Brandstiftung und die anschließende Entnahme des Restmaterials zum Bau der eigenen Datscha dem Bauwerk das tatsächliche Ende.

Ein besonders unrühmliches Beispiel ist der frühere Kreis Elchniederung; der ehemalige Marktflecken Kaukehmen (heute Jasnoe), überstand völlig unversehrt den Krieg, aber von 4500 Einwohnern in deutscher Zeit wurde er zu einer Ansammlung von Ruinen, in denen noch etwa 500 Menschen ihr Dasein fristen. Im großen Kirchdorf Neukirch (Timirjasewo) beispielsweise, das auf eine Gründung Friedrich Wilhelms I. zurückgeht, überlebte die Pfarrkirche Krieg und Sowjetzeit in verhältnismäßig gutem Zustand. Aber im März 1998 wurde das als Lagerhaus genutzte Bauwerk Opfer eines durch Fahrlässigkeit entstandenen Brandes.

Die meisten Bauten wurden nach 1945 zerstört

Der Bankrott zahlreicher Kolchosen führte zu einer erschreckenden Arbeitslosigkeit, der die mittellos gewordene Landbevölkerung oft wenig anderes entgegensetzen konnte, als einen Abriß aus deutscher Zeit stammender verfallender oder zerstörter Gebäude mit dem anschließenden Verkauf der Ziegel zum Durchschnittspreis von 100 Rubel (etwa 4 Euro) für 1.000 Stück. 600 Kilometer von Berlin entfernt lebt etwa eine halbe Million Menschen auf dem Land in bitterster Armut - nur findet man gleichzeitig in der Gebietshauptstadt Kaliningrad mit ihren über 400.000 Einwohnern mehr Daimler- und BMW-Luxuskarossen als in einer bundesdeutschen Großstadt gleicher Größe.

Es würde nur ein kleiner, mehr intellektueller Teil der Bevölkerung vorziehen, mit beispielsweise litauischem Paß auf litauischem Staatsgebiet zu wohnen, denn die Mehrheit der Russen plädiert für den Weiterbestand des jetzigen Exklavenstatus, nicht zuletzt durch Scharfmacher wie Wladimir Shirinowskij angefeuert, der immer wieder die Schaffung eines Korridors auch mit Gewalt gegen einen litauischen Willen fordert. Doch man hat in den letzten 80 Jahren mit Korridoren in Mitteleuropa nur zweischneidige Erfahrungen gemacht (C.G. Ströhm in JF 22/02). Der Bildung einer vierten baltischen selbständigen Republik werden die Falken in Moskau nicht zustimmen. Was also wird kommen?

Für den russischen Gebietsgouverneur Jegorow scheint es nur zwei Lösungen zu geben: Einesteils ein EU-Sonderstatus mit faktischer Angliederung, der allerdings zur Zeit unrealisierbar ist, da er am niedrigen Lebensstandard des Gebietes scheitert, das mindestens noch 15 Jahre brauchen würde, um selbst auch bei guten Rahmenbedingungen auf das Niveau seiner Nachbarn zu kommen.

Die zweite Möglichkeit ist - bei aller völkerrechtlichen Problematik von Korridoren - die realistischere: Ein Transit durch Litauen und Polen nach Rußland sollte über zwei festgelegte Autostrecken und eine Eisenbahnlinie erfolgen. Bei einer Transitzeit von zwölf Stunden würden die Reisenden beim Erreichen litauischen Hoheitsgebietes ein spezielles Transitvisum erhalten, das bei der Ausreise bzw. Ankunft an der Grenze des Kaliningrader Gebiets wieder abzugeben wäre (Der Spiegel 21/02). Frei nach dem Muster des alten und bewährten "Transit West-Berlin" aus DDR-Zeiten. Drei Spuren könnte es für den Autoverkehr geben: "Einreise Litauen" - "Transit Kaliningrad (bzw. Moskau)" - "Sondergenehmigung". Doch wirkt diese Erweckung alter Schemata aus Zeiten des Kalten Krieges heute gerade auf dem Territorium der früheren Sowjetunion nicht als ein Hohn und Bankrott aller Liberalisierungen nach dem Zerfall der östlichen Weltmacht? Rächt sich hier "alle Schuld auf Erden"?

Für den russischen Außenminister Igor Iwanow hat die Lösung der Kaliningrad-Frage jedoch für die weitere Gestaltung der Beziehungen zwischen Rußland und der Europäischen Union die zentrale Bedeutung; doch auch wenn das Problem Nord-Ostpreußen zunächst keine Lösung verspricht - zumindest wird die seit 57 Jahren bei der Mehrheit auch der Deutschen in Vergessenheit geratene ehemalige preußische Krönungsstadt am Pregel wieder in einen Kernpunkt mitteleuropäischer Politik rücken und durch den jetzigen Status auch ihre deutsche Vergangenheit aktualisieren.

 

In der vorigen Woche erschien an dieser Stelle ein Beitrag von Prof. Wolfgang Seiffert, der für einen freien Zugang Rußlands zu seiner Exklave Kaliningrad plädierte und vor der Illusion warnte, das Gebiet könne an Deutschland zurückfallen. Die JF wird die Debatte um die Zukunft Königsbergs fortsetzen.


 
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