© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/02 21. Juni 2002

 
Grenzen des Rechts
Die USA bleiben dem Internationalen Strafgerichtshof fern - zurecht
Alexander Barti

Bereits 1872 hatte der Schweizer Rot-Kreuz-Aktivist Gustave Moynier unter dem Eindruck des deutsch-französischen Krieges 1870/71 den ersten Vorschlag für ein Internationales Strafgericht unterbreitet; aber im Zeitalter der nationalen Souveränität hatte so ein Vorschlag nicht die geringste Chance auf Umsetzung. Erst die Internationalen Militärtribunale der Siegermächte in Nürnberg und Tokio nach 1945 belebten erneut die Idee von Moynier, so daß sie im Rahmen der 1948 gegründeten Organisation der Vereinten Nationen (Uno) wieder aktuell wurden.

Eine beschlossene Völkermordkonvention sah in Artikel VI ein solches Strafgericht vor - ohne daß tatsächlich etwas geschah; bald darauf ließ der Kalte Krieg jede Globalisierungstendenz in der Gerichtsbarkeit erstarren. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kam wieder Bewegung in die verdrängte Idee: 1990 erneuerte die UN-Generalversammlung den Auftrag an die Völkerrechtskommission, die Einrichtung eines Strafgerichtshofes zu prüfen, und 1993 bekräftigte die Wiener Menschenrechtskonferenz die Forderung nach einem solchen Tribunal.

Anfang der neunziger Jahre verhalfen zahlreiche Konflikte, beispielsweise in Ruanda oder im ehemaligen Jugoslawien, weitere Vorstöße auf dem Gebiet der internationalen Gerichtsbarkeit in Angriff zu nehmen. Als Ergebnis billigte der UN-Sicherheitsrat zwei ad-hoc-Strafgerichtshöfe, die aber noch nicht den Charakter einer ständigen Einrichtung hatten. Erst in zähen Verhandlungen in den Jahren 1995 bis 1998 wurde die Idee weiter vorangetrieben, bis endlich eine Diplomatische Bevollmächtigungskonferenz zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes in Rom abgehalten wurde.

Damit war der entscheidende Schritt getan, die präzise Ausarbeitung der Rechtsstatuten konnte beginnen, und bald darauf begannen die Uno-Mitgliedsstaaten mit der Ratifizierung des Vertragswerkes. Am 11. April 2002 hinterlegten gleich zehn Länder - Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Irland, Jordanien, Kambodscha, Kongo, Mongolei, Niger, Rumänien und die Slowakei - die 60. Ratifizierungsurkunde (insgesamt sind 139 Staaten dabei) des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in New York - am 1. Juli 2002 tritt es in Kraft, und 2003 nimmt das Tribunal in Amsterdam seine reguläre Arbeit auf.

Einziger gravierender Haken an der Sache: Die USA weigern sich, dem IStGH beizutreten, obwohl der ehemalige US-Präsident Bill Clinton das Abkommen seinerzeit unterzeichnet hatte; der US-Kongreß stellt sich aus Verantwortung für seine Staatsbürger quer. Und das aus gutem Grund, denn der Handlungsspielraum für das Gericht ist immens. Zwar ist die Gerichtsbarkeit "nur" auf die Verbrechen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression beschränkt, aber die einzelnen Delikte sind reinster Sprengstoff in einer globalisierten Welt, die dazu übergegangen ist, alle Normen über den Leisten der "westlichen Zivilisation" zu schlagen. Und: das "Verbrechen der Aggression" muß sogar noch definiert werden. Stritten sich schon bisher die Experten darüber, wann ein Angriffskrieg beginnt, wo die Grenzen zum Kriegsverbrechen liegen oder warum gewisse Kampfmethoden nicht eingesetzt werden dürfen, so wird die Definition einer "verbrecherischen" Aggression praktisch unmöglich sein. Im Namen der Menschlichkeit wird damit an den Grundlagen des Menschseins gerüttelt. Kein US- oder Uno-Truppenkommandant - den US-Präsidenten eingeschlossen - wäre vor einer Anklage sicher, und schon die Beweisaufnahme käme einer ungeheuren Demütigung gleich; besonders in Staaten, die seit über hundert Jahren keinen wichtigen Krieg mehr verloren haben.

Die Weigerung der USA, sich einem solchen absurden Regelwerk zu unterwerfen, wurde von den meisten Medien als Heuchelei einer Weltmacht verstanden, die keine Rücksicht nehmen will, wenn es darum geht, afghanische Dörfer mit Uranmunition zu bombardieren oder Chemiewerke in die Luft zu jagen. Das mag stimmen; aber viel entscheidender - und vorbildlicher - sollte für die impotenten Europäer sein, daß hier ein Selbstverständnis von Souveränität aufblitzt, das man schon lange unter der Dampfwalze der Globalisierung wähnte. In Anlehnung an den Staatsrechtler Carl Schmitt könnte man postulieren, daß nur derjenige souverän ist, der sich aussuchen kann, welcher Gerichtsbarkeit er sich wann unterwirft: frei ist, wer ungestraft lügen darf.

Die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs zeugt aber auch von einer gehörigen Portion Naivität, die noch immer dem Denken der abendländischen Aufklärung entspringt. Dieses Denken geht davon aus, daß überall dort, wo es Gesetze gibt, Gerechtigkeit herrscht - und übersieht dabei, daß Gesetze ohne "übermenschliche" Sittlichkeit nur Unheil anrichten. Gesetze funktionieren nicht per se, sie müssen interpretiert werden und verändern ihren Charakter im Wandel der Zeit. Was heute undenkbar erscheint, wird morgen schon von der gleichen Norm gedeckt werden. Deswegen ist man mit dem Welttribunal in Den Haag dem "Frieden" auf Erden keinen Schritt näher gekommen - auf dem Weg zur "Diktatur der Humanität" hat man aber eine wichtige Hürde gemeistert.


 
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