© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Mehr Individualisten als Typen
Marburg, Tübingen und Halle: Tendenzen der neueren Universitätsgeschichtsschreibung
Jörg Spalthoff

Eine Geschichte der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft müßte der nach 1968 sich entfaltenden, mitunter marxistisch inspirierten, bisweilen die Grenze zum Ökonomismus streifenden "Sozialgeschichte" das umfangreichste Kapitel widmen. Daß nicht gesellschaftliche "Strukturen", sondern Emotionen das menschliche Miteinander bestimmen, hat seit den achtziger Jahren dann den Siegeszug der Alltags- und Mentalitätsgeschichte bedingt. Doch ist im Rückblick fraglich, ob diese, von manchen Hütern der Strukturen verachteten "Barfußhistoriker" nicht spätestens ab Mitte der neunziger Jahre von den Wissenschaftshistorikern überflügelt wurden. Die produzieren mittlerweile so eifrig, daß es schwerfällt, ihre Erträge kritisch zu sichten.

So scheinen allein auf dem Sektor der Universitätsgeschichte Monographien im Monatstakt auf den Buchmarkt zu purzeln. Das meiste Interesse erregt dabei immer noch das "tausendjährige Reich", wie Henrik Eberles soeben veröffentlichte Untersuchung zur Hallenser "Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus" belegt. Hingegen hält sich die Neugier am akademischen Treiben während des kurzen Sommers der ersten deutschen Republik in engsten Grenzen - eine Studie wie Sylvia Paletscheks Habilitationsschrift fällt schon durch ihren Untertitel auf, der verspricht, die Geschichte der Universität Tübingen während des Kaiserreiches und in der Weimarer Republik verfolgen zu wollen, aus dem Rahmen. Und trotz der zahlreichen Arbeiten zum "Krieg der Geister" zwischen 1914 und 1918 konnte die mittlerweile im sächsischen Archivdienst tätige Marburger Historikerin Andrea Wettmann mit ihrer Dissertation über "Preußische Universitätspolitik und die Universität Marburg im Ersten Weltkrieg" noch Neuland erschließen.

Wettmanns lokale Studie widmet sich einer Hochschule, die bis 1914 nicht wenig von Königgrätz profitierte. Die außergewöhnliche Förderung der Philippina war ein Element der preußischen Integrationspolitik, die mit den Folgen der Annexion Kurhessens versöhnen sollte: zwischen 1865 und 1914 versechsfachten sich daher die staatlichen Zuschüsse. Eine irgendwie bemerkenswerte "Borussifizierung" ergab sich aus dieser Förderung jedoch nicht. Die "mentalen Dispositionen" der Hochschullehrer und Studenten waren am Vorabend des Ersten Weltkrieges von einer zeitüblichen Bismarck-Verehrung und kommoden Idealisierung der Hohenzollernmonarchie bestimmt. Eine akademische "Kriegsdisposition" vermag Wettmann nicht aufzuspüren. Als die Schüsse von Sarajewo gefallen waren und die "Urkatastrophe" des Jahrhunderts ihren Lauf nahm, beteiligten sich Marburger Professoren zwar an publizistischen Kontroversen mit westeuropäischen Kollegen, doch Wettmann behandelt diese ideologischen Fehden fast beiläufig, wenn man ihr auch die naiv-falsche, von ihr einmal mehr kolportierte Lesart ankreiden muß, wonach die "provozierten" französischen und englischen Professoren lediglich auf die "Überheblichkeit" deutscher Kriegspublizistik geantwortet hätten. Viel interessanter ist es für sie, den Einfluß des Krieges auf Forschung und Lehre aufzudecken. Dabei steht der unspektakuläre Alltag an der "Heimatfront" im Mittelpunkt: die Aufrechterhaltung des Studienbetriebs, die Indienstnahme der Kliniken als Kriegslazarette, die Beteiligung an der Fürsorge für Frontsoldaten.

Kärglich fällt Wettmanns Bilanz zum Thema "Forschung unter Kriegsbedingungen" aus: Nur wenigen Marburger Professoren sei es vergönnt gewesen, "ihr Know-how direkt den militärischen Stellen zur Verfügung stellen zu können". Von rüstungspolitisch motivierter staatlicher Mobilisierung und Lenkung der Wissenschaft, gar von einer "‚Einordnung in die imperialistische Kriegführung'", könne keine Rede sein. Allerdings sind institutionelle Auswirkungen zu beobachten: Der Völkerrechtler Walther Schücking versuchte die Gunst der Stunde zu nutzen, um Gelder zur Förderung seines Faches locker zu machen, dessen Bedeutung in einem Land unschwer einzusehen sei, das von 13 Staaten "bekriegt" werde. Während das von ihm erstrebte völkerrechtliche Seminar mangels finanzieller Mittel nicht gegründet wurde, waren die Mediziner erfolgreicher. Sie trieben den Spezialisierungsprozeß in der Fakultät voran und erwirkten kriegsbedingte neue Lehraufträge für Orthopädie (Kriegsversehrte), Gynäkologie und Pädiatrie (Säuglingssterblichkeit infolge Nahrungsmangel). Wie überhaupt die "angewandten Wissenschaften" mehr als geisteswissenschaftliche "Sinngebungsfächer" vom Krieg profitierten und die Universität so einen kräftigen Schub in Richtung Dienstleistungsbetrieb erhielt. Innerdisziplinäre Prozesse wie wissenschaftsexterne Faktoren, die zu veränderten Methoden gerade in der Medizin und den Naturwissenschaften führten, werden von Wettmann jedoch kaum gestreift. Dies ist die am meisten zu beklagende Lücke in ihrer sonst so gründlichen Arbeit.

Die politischen Implikationen der Fachgeschichte bleiben fast vollständig ausgespart in Sylvia Paletscheks Arbeit, die am Beispiel Tübingens "die gesellschaftlichen Funktionen eines Hochschulsystems im Zusammenhang von Bildung, Umbildung oder Reproduktions-Eliten" freilegen möchte. Die schwäbische Alma mater als "Sozialsystem" zu erfassen - das bedeutet für Paletschek die räumliche Entwicklung, das Verhältnis zwischen Universität und Stadt, die Funktionsweise akademischer Selbstverwaltung, soziale Rekrutierungsbedingungen der Hochschullehrerschaft, Institutionalisierung neuer wissenschaftlicher Disziplinen, Studentenfrequenzen und Universitätsfinanzierung in mühsamen empirischen Erhebungen zu erforschen.

Dabei blendet sie wissenschaftshistorische Aspekte, von denen sie glaubt, diese könnten bei der Vielzahl der Fächer ohnehin nur noch im Team bewältigt werden, soweit aus, daß Tübingen in ihrer Mammutstudie wie eine Geister-Universität wirkt. Statistische Exzesse, die nicht nur dort zum Selbstzweck erstarren, wo beispielsweise aufgeschlüsselt wird, wie lange ein Tübinger Privatdozent auf seine erste auswärtige Berufung warten muß, anonymisieren den Lehrkörper in einer Weise, die jede Anschaulichkeit raubt. Was die Autorin unter den Datenhalden dann endlich über die soziale Öffnung des Hochschullehrerberufs zwischen 1870 und 1930 resümiert, rechtfertigt keinesfalls solchen EDV-Aufwand. Auch stärkere Kapitel, die eine "Verlaufbahnung" des Gelehrtenberufs und Indikatoren der Entwicklung der Universität zum Großbetrieb aufzeigen, sind aus älteren Arbeiten, die sich mit Friedrich Althoffs preußischer Wissenschaftspolitik oder den Anfängen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft befassen, hinlänglich bekannt.

Verflüchtigen sich bei Paletschek Lebensläufe in statistischen Tabellen, hat Henrik Eberle große Freude daran, es dem hierin unerreichten Helmut Heiber ("Universität unterm Hakenkreuz") nachzutun und die Gelehrten-Biographie mit reichlich (un-)kollegialem Klatsch anzureichern, was dem erklärten Ziel des Verfassers, die "individuelle Dimension sichtbar zu machen", zugute kommt und die Lesbarkeit in erfreulicher Weise steigert. Allein die Hälfte seiner opulenten Geschichte der Universität Halle im Dritten Reich füllt Eberle mit einem äußerst nützlichen, aus Akten des Universiätsarchivs geschöpften biographischen Anhang. Für dµn vom Verlag sehr großzügig illustrierten Darstellungsteil muß man allerdings beklagen, daß die Einsicht, daß es unter Hallenser Professoren "viel mehr Individualisten als Typen" gegeben habe, methodisch nicht konsequent umgesetzt wird. Das liegt nicht nur daran, daß Eberle, wie er vorab einräumt, seine politische Geschichte der Universität, die er mit Recht als "fragmentiert und vielschichtig" begreift, an "manchen Stellen mit unnötigen Wertungen" gespickt hat.

Gravierender ist, daß Eberle, der sich am universitätshistorisch mittlerweile für die NS-Zeit etwas eingefahrenen Schema von personeller "Säuberung" und nationalsozialistischem "Neuaufbau" orientiert und chronologisch die Etappen der gescheiterten, auf das Rasseparadigma fixierten "Hochschulrevolution" abschreitet, die Verklammerung von Politik und Wissenschaft zu stark vernachlässigt. Zu oft findet man das oberflächliche Diktum: "der Inhalt ist entsprechend", angereichert um ein paar vermeintlich "eindeutige" Zitate.

So bringt Eberle sich um die Chance, das komplizierte Verhältnis von Wissenschaft und Ideologie gerade in geisteswissenschaftlichen Fächern ähnlich differenziert zu erfassen wie ihm das vereinzelt glückt, etwa im Falle einer Luther-Festrede des Kunsthistorikers Wilhelm Waetzold, der schwer zu analysierenden politischen Biographie des Strafrechtlers Arthur Wegner oder der sperrigen Haltung des durch mehrere Disziplinarmaßnahmen nicht von seiner Anti-NS-Position abzubringenden Anglisten Hans Weyhe. Wie sich Waetzold, Wegner und Weyhe in ihren jeweiligen Fächern zum Zeitgeist stellten, erfährt der Leser freilich nicht. Ebenso unklar bleibt, was der deutschnationale Hans Herzfeld, der wegen seines jüdischen Großvaters nur als Opfer der NS-Rassenpolitik Beachtung findet, nach 1933 publiziert hat.

Obwohl sich Eberle große Mühe gibt, bei den Medizinern die Infiltration der Disziplinentwicklung mit der Rassenideologie und die Indienstnahme für die staatlich verordnete "Menschenauslese" zu schildern, kommt er über einzelne, noch dazu besonders abschreckende Beispiele nicht hinaus. Eine Schwäche, die man ihm aber angesichts der miserablen, zumeist "marxistisch-leninistisch" geprägten Vorarbeiten zur Hallenser Universität schon deshalb nachsehen sollte, weil hier erstmals eine vom ideologischen Ballast weitgehend freie Gesamtdarstellung über diesen wichtigen Abschnitt ihrer Geschichte versucht worden ist.

Wer schon bei Eberle fordert, er hätte die Individualisierung weitertreiben sollen, wird an den "Beiträgen" zur Geschichte der Martin-Luther-Universität, die nicht weniger als 500 Jahre abdecken wollen, keine Freude haben. Hier ist offensichtlich mit Blick auf das nahende Jubiläum alles versammelt worden, was gerade druckreif war. So steht eine umfangreiche Studie über das Institut für Sportwissenschaft neben wenigen Seiten über die Hallischen Prolegomena zur Wissenschaft des Judentums. Auch in Einzelbeiträgen muß sich mit Punktuellem begnügen, wer auf 20 Seiten einige Jahrhunderte Diszplingeschichte unterbringen möchte, so etwa Peter Hertner über die Staatswissenschaften oder Walter Zöllner über die Mediävistik. Die Neuhistoriker bleiben außen vor, stellvertretend wird nur Herzfeld porträtiert, der für die Zeit nach 1933 ebensowenig wie bei Eberle Kontur gewinnt.

Leidlich konsistent präsentieren sich nur die vierzig Jahre DDR-Geschichte , denen man ein Fünftel des Bandes widmet, so daß damit doch die Proportionen empfindlich verschoben werden.

Hendrik Eberle: Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2002, 539 Seiten, 29,50 Euro

Hermann J. Rupieper (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität 1502- 2002. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2002, 696 Seiten, 27,50 Euro

Sylvia Paletschek: Die permanente Erfindung der Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2001, 608 Seiten, Abb., 100 Euro

Andrea Wettmann: Heimatfront Universität. Preußische Hochschulpolitik und die Universität Marburg im Ersten Weltkrieg. SH-Verlag Köln 2000, 514 Seiten, 49,80 Euro


 
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