© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/02 28. Juni 2002

 
Deutsche sind nicht leistungswillig
von Gerog Schmelzle

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit fordert unser Bundeskanzler - um von der Jugendarbeitslosigkeit abzulenken - , daß wir noch die letzte Begabung fördern müßten. Die Bildungsministerin Buhlmann klagt darüber, daß nur die Hälfte der Abiturienten ein Studium anstrebt. Dahinter steckt, daß man mehr als dem halben Jahrgang ohne Rücksicht auf Begabungsschwerpunkte ein allgemeinbildendes Abitur und möglichst noch ein Studium verordnen will, um den Lehrstellenmarkt und die Arbeitslosenstatistik zu entlasten.

Auf der gleichen Linie liegt es, wenn ein sozialdemokratischer Landrat in seinem Grußwort bei einer Lehrlingsfreisprechung die Gesellen ermahnt, nur nicht beim Altgesellen und Vorarbeiter stehenzubleiben, sondern "unbedingt" den Meister, den Betriebswirt des Handwerks oder den Ingenieur anzustreben. Dabei werden den jungen Menschen Rosinen in den Kopf gesetzt, bevor sie durch Erfahrung vollgültige Facharbeiter geworden sind. Das kann bei neun von zehn Ausgelernten nur zu Enttäuschungen führen, statt sie auf ihre produktive Arbeit stolz zu machen, die sicher noch drei Gesellenjahre braucht, bevor sie vielleicht zum Meister oder Ingenieur führt.

Das Hochjubeln der Abschlüsse und die krampfhafte Steigerung der Abiturientenquote kann nur zu einer Nivellierung der Bildung führen und ist Ursache für unsere Wirtschaftskrise und den Mangel an guten Facharbeitern und tüchtigen Angelernten bzw. Werkern. Wir drängen unsere Kinder in intellektuelle Ausbildungen, zu denen oft die Begabung fehlt, und verpassen ihnen tariffähige Abschlüsse für "weiße Kragenarbeit", für die sie kein Arbeitgeber mehr einstellt. Da wird der ausländische Gastarbeiter oder Spätaussiedler mit geringerem Lohnanspruch und ordentlicherer Arbeitseinstellung vorgezogen. Wir meinen oft, daß unsere Kinder alle zu Höherem geboren sind und die einfache Arbeit in Handwerk, Handel und Dienstleistungsgewerbe von Umsiedlern aus den neuen Bundesländern, Spätaussiedlern und willigen Einwanderern geleistet werden soll. Von dem früheren niedersächsischen Kultusminister Werner Remmers (CDU) wird 1985 das Bonmot übermittelt: "Ñur die besten und meine Kinder sollen Abitur machen." Hier liegt der Hauptfehler der Bildungspolitik.

Der Einzelhandel, das Handwerk und die Dienstleistungsberufe leiden am Mangel an guten Auszubildenden - wenn wir von einigen zielsicheren Abiturienten, Realschülern und Selbstständigenkindern absehen. Der zweite Bildungsweg ist heute nicht mehr eine Chance für Restbegabungen, die den ersten Bildungsweg verpaßt haben - wie sie zum Beispiel Helmut Schelsky bis 1960 auf der Hamburger Hochschule für Sozialwissenschaften sammelte - , sondern eine Arbeitslosensammelstelle für unqualifizierte Ausgelernte. Die Tüchtigen hat sich die Wirtschaft längst gesichert und läßt sie auf eigene Kosten weiterbilden, natürlich unter dem Gehaltsanspruch eines Akademikers und mit der Verpflichtung, einige Jahre zu bleiben oder die Fortbildung (zum Beispiel zum Sparkassenbetriebswirt) zurückzuzahlen. Hochschulstudium ist nur noch für die eigenen Sprößlinge sinnvoll, denen man als Chef dann die Vorstandsposten besorgen kann.

Das milliardenschwere Qualifizierungsprogramm der Bundesanstalt für Arbeit in Gemeinnützigen Ausbildungsgesellschaften (GAG) bildet oft nur die Unqualifizierten für Tätigkeiten aus, denen sie nicht gewachsen sind. Sie erwerben über ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) einen einjährigen überhöhten Arbeitslosengeldanspruch oder werden mit ihrem geschenkten Gesellenschein in marktferner Schulausbildung Dauerarbeitslose, weil sie mit ihrer Leistung den Tarif nicht wert sind. Die Ausbildungsgesellschaften verdienen sich dabei eine goldene Nase und machen ihre Absolventen mit eingeübten Prüfungen nur arbeitsunwillig. Sie verlangen einen Tarif, dem sie durch Leistungsvermögen nicht entsprechen. Ein Werker- oder Helferabschluß würde ihnen viel sicherer Arbeit verschaffen. Wenn man einem Lehrbetrieb die Hälfte der Ausbildungsvergütung bei theoretisch schwachen und sozial gefährdeten Schülern erstatten würde, fänden sie viel sicherer und kostengünstiger in die Arbeitswelt hinein. Sie wären auch konkurrenzfähiger gegen willige ausländische Gastarbeiter aus Ostmitteleuropa, die auf den deutschen Markt drängen und ohne Gesellenprüfung tarifgünstiger sind.

Der Schulaufenthalt wird bei uns immer weiter verlängert und verdirbt bei vielen praktisch Begabten die manuelle Lernfähigkeit, die nur bis zum 16. Lebensjahr ausbildbar ist. Die Überbewertung eines Schulabschlusses verhindert eine begabungsgerechte Anlerntätigkeit, die nach fünfjähriger erfolgreicher betrieblicher Praxis automatisch zum Gesellenlohnanspruch oder einer Sonderprüfung führt. Die rußlanddeutschen Bauarbeiter auf dem Bau werden bei gleicher Leistung nach einer Probezeit ebenfalls voll bezahlt. Ein Sonderschüler wird nur in der Schule festgehalten, wenn man ihm in einem 10. Schuljahr noch den Hauptschulabschluß geben will, den er doch mit bestandener Gesellenprüfung automatisch bekommt.

Der gleiche Zeitverlust tritt bei einem Hauptschüler durch den "realschulgleichen Abschluß" nach dem 10. Schuljahr ein, während eine befriedigende Gesellen- oder Gehilfenprüfung die Mittlere Reife einschließt. Wenn man noch weiß, wie viele Schulstunden ausfallen, kann einem nur angst und bange werden, wie sich Schulverwöhnte an einen Achtstundentag oder Arbeit am Samstag gewöhnen sollen. Der Einzelhandel kann schon wegen des schulfreien Samstag kaum guten Nachwuchs gewinnen. Früher wurde Bayern ein Kulturgefälle zugeschrieben, weil dort nur acht Jahre bis zum Hauptschulabschluß genügten. Schon damals hatten die Jugendlichen in Bayern aber mehr Schulstunden zu absolvieren als die in Niedersachsen, Ausfall gar nicht eingerechnet. Auch das Fachabitur oder die Fachschulreife sind nicht mehr sinnvoll, wenn sie nur angestrebt werden, weil man nach schwachen Gesellen- oder Gehilfenprüfungen die Arbeit verliert. Durch einen weiteren Schulbesuch gewinnt man nicht und verlernt noch die praktischen Kenntnisse. Es müßte eine Aufnahmeprüfung geben, der "Qualifizierte Sekundarabschluß I" darf nicht zum Nulltarif zu haben sein.

Früher - gerade nach den verpaßten Bildungschancen der Nachkriegszeit - war der zweite Bildungsweg sinnvoller. Damals bestanden nur sieben Prozent der Schüler das Abitur, heute bekommen es bundesweit 35 Prozent. Nur Bayern, Baden-Württemberg sowie Sachsen und Thüringen fordern noch Aufnahme- und Abschlußprüfungen und machen die Kopfnoten (Aufmerksamkeit, Betragen, Fleiß und Anwesenheit) nicht zu einer Farce.

Bereits ausreichende Leistungen werden durch Bafög gefördert, wenn das Einkommen der Eltern gering ist oder "Halbfamilie" vorliegt. Leistungsstipendien gibt es von der deutschen Wirtschaft immer nur als Ergänzung der elterlichen Leistungsfähigkeit. Niemand kommt auf die Idee, die Eltern, die gute Abiturienten großziehen, mit einem Stipendium für das dritte und folgende Kind zu mehr Kindern zu animieren. Es ist doch absurd, daß eine Stiftung in einer norddeutschen Kleinstadt die Gewährung eines Stipendium nur an die Note 3,0 und die materielle Bedürftigkeit bindet. An dieser Stelle ist auch der Integrationswahn zu erwähnen, der sich in der Zerschlagung des dreigliedrigen deutschen Schulsystems betätigt. Die Integration aller bis hin zu den geistig Behinderten führt zu einer Nivellierung des Lernfortschrittes. Vor allem die Lernschwachen verlieren dabei den Vorteil der kleinen Zahl und einer auf sie zugeschnittenen Unterrichtsgestaltung ohne Überforderung. Das mag zwar Lehrer einsparen, aber wird keinesfalls soziale Konflikte vermeiden und die Anpassungsschwierigkeiten noch erhöhen. Vor allem wird den Kindern mit mangelnder Schulreife dadurch geschadet, daß man in den meisten Bundesländern die Vorschule abgeschafft hat, die das letzte Jahr Kindergarten sinnvoll ersetzte.

Während die Gymnasien von Schülern überschwemmt werden, die nur mit Nachhilfestunden zum mäßigen Erfolg geführt werden können, müssen sich Handwerk, Handel und Dienstleistungsberufe oft mit schwachen Arbeitsunwilligen abplagen und werben deshalb Umsiedler, Spätaussiedler und Ausländer an. Es ist kein Zufall, daß die Wirtschaft Einwanderung von arbeitswilligen Ausländern fordert. Durch die Fehlleitung unserer Kinder durch immer längere Schulzeiten mit Inhalten, die ihrer Begabungen nicht entsprechen, entsteht ein Einwanderungsdruck.

Deutsche Arbeitsamkeit und Pflichterfüllung sind nur noch Legende. "Meister Deutschland ist fett und faul geworden" merkte schon vor einem Jahrzehnt ein japanischer Unternehmensberater an. Auf Goethe hörten wir nicht: "Grau ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum", und müssen heute von der Amerikanern lernen: "You-learn-the-job-only-on-the-job". Wir können uns unsere Schul- und Berufsabschlüsse als Tarifberechtigungen nur leisten, wenn sie durch Fleiß, Arbeitsamkeit und Fachkönnen realistisch gestalten und bei längeren Kranken-, Fremdberufs- und Arbeitslosenzeiten eine Rückstufung hinnehmen.

Wir können unser soziales Netz nur halten, wenn wir verantwortungsvoll damit umgehen. Was helfen die höchsten Lohntarife der Welt mit den garantiert besten Arbeitsbedingungen, wenn es keine Arbeit mehr dafür gibt? Vor allem die Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft wird viele junge, tüchtige, leistungswillige Menschen bewegen, zu uns zu kommen und ihre Arbeit in Handwerk, Handel und Dienstleistungen anzubieten. Wenn unsere jungen Menschen damit konkurrieren wollen, werden sie es nur mit realistischen Schul- und Ausbildungsabschlüssen schaffen.

"Die Arbeit machen die anderen", wie Helmut Schelsky 1970 die Einstellung der Wohlstandsbürger charakterisierte, gilt nicht mehr. Mit dem Nachholbedarf der durch 44 Jahre sozialistischer Mißwirtschaft verfallenen neuen Bundesländer haben wir die Krise überspielt, die unsere westlichen Nachbarn alle ereilt und vernünftiger gemacht hat. Sie sind heute besser auf die Globalisierung vorbereitet als wir und vermeiden Streitereien um die Qualität der Arbeitsbedingungen.

Wenn wir nicht aufhören, uns auszurechnen, daß wir mit Arbeitslosengeld, Umschulung Vorruhestand und Schwarzarbeit bequemer zurechtkommen, zerstören wir den Wirtschaftsstandort Deutschland völlig. Immer mehr Produktion wird ins Ausland verlagert und immer mehr Einwanderer übernehmen die Dienstleistungsgewerbe. Es ist höchste Zeit, auf liebgewordene Bequemlichkeiten zu verzichten, denn durch die Bummelei seit der Deutschen Einheit sind wir schon auf eine drittklassige Stufe abgerutscht. Ein Volk, das nicht mehr begabungsgerecht ausbildet und die meisten Berufspositionen mit eigenen Leuten füllen kann, muß sich darauf einrichten, daß die, die die Arbeit tun, auch die Entwicklung der Gesellschaft und Kultur bestimmen wollen. Packen wir also endlich an, wie nach der Währungsreform, und vergessen die erworbenen Tarif- Berechtigungen aus Schul-, Berufs- und Studienabschlüssen, auf frühen Ladenschluß und unflexible Arbeitszeiten.

Ein Ingenieur legte im Jahr 1948 noch mit 40 Jahren die Müllergesellenprüfung ab, weil er als Diplom-Ingenieur keine Arbeit fand. Er konnte damit Geschäftsführer einer Handwerkskammer werden. Ein Beispiel für viele, als Offiziere und Akademiker nach dem Krieg nochmals von der Pike auf ins Berufsleben traten und die Grundlage für eine zweite Karriere legten. Leider hat man in den siebziger Jahren die Praktika und verkürzten Berufslehren bei vielen akademischen Karrieren wegfallen lassen und damit die Autorität der Führung in der Praxis geschmälert. Früher lag in der Verknüpfung des Vorgesetztenpostens mit der praktischen Überlegenheit als Meister die Stärke der deutschen Wirtschaft und Berufshierarchie.

In den Medien erscheint die Wirtschaft wie ein großes Rätsel, bei dem keiner mehr durchblickt. Und das ist gerade das Gefährliche. Dann entsteht nämlich der Eindruck, daß Leistung und Ehrlichkeit sich nicht mehr lohnten. In Wahrheit kann es immer nur Arbeit sein, die zum Wohlstand führt. Von nichts kommt nichts, dieser einfache Grundsatz gilt auch in der kompliziertesten Ökonomie.

Das Wirtschaftswunder war kein Wunder, sondern das Resultat großer Anstrengungen. Entsprechend stammen unsere Problem letztlich daher, daß zu lange zu gut verdient und zu wenig gearbeitet wurde. Wir haben unseren Wohlstand schlicht und einfach verpraßt. Arbeiterfamilien haben sich große Häuser gebaut, Rentner hielten es kaum noch in den eigenen vier Wänden aus und reisten um die Welt wie Millionäre. Ganz zu schweigen von dem, was Länder und Gemeinden für Gesundheits-, Kultur- und Sozialeinrichtungen hinbutterten. Irgendwann ist die Kasse leer. Der "Ruck", von dem Ex-Bundespräsident Herzog sprach, wird so lange nicht durch Deutschland gehen, wie es Politiker gibt, die versprechen, geschlachtete Kühe zu melken - und Wähler, die daran glauben wollen.

 

Georg Schmelzle ist pensionierter Berufsschullehrer in Norden / Ostfriesland.


 
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