© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
"Logisch nicht zu halten"

Der Kulturkritiker Joachim Kaiser über den jetzt erschienenen Roman "Tod eines Kritikers" und die Vorwürfe gegen Martin Walser
Moritz Schwarz

Herr Professor Kaiser, das neue Buch Martin Walsers "Tod eines Kritikers" ist nun - der Suhrkamp Verlag hatte den Termin vorgezogen - in der letzten Woche erschienen. Sie haben den Roman in einem Aufsatz in der "Süddeutschen Zeitung" gegenüber dem Vorwurf des Antisemitismus in Schutz genommen. Warum ist "Tod eines Kritikers" kein antisemitisches Buch?

Kaiser: Ich gebe zu, das Buch mit einer gewissen Ängstlichkeit gelesen zu haben, denn bekanntlich kann Martin Walser ziemlich "loslegen". Natürlich ist dieses Buch ein Pamphlet, denn es ist von einem übermütigen Haß gegen einen Kritiker geprägt - nicht aber vom Haß gegen einen Juden. Und der Vorwurf des Antisemitismus ist heutzutage ein unerträglicher Vorwurf, den niemand auf sich sitzen lassen kann. Walser beschreibt einen Juden - André Ehrl-König alias Marcel Reich-Ranicki - als kritischen Intellektuellen, Egomanen und Showmenschen. Wenn nun jemand behauptet, das sei antisemitisch, weil typisch jüdisch, dann ist doch derjenige der Antisemit, weil er solche Muster im Kopf hat - nicht Martin Walser, der behauptet so etwas nämlich nicht.

Sie sind ein persönlicher Freund sowohl Martin Walsers als auch Marcel Reich-Ranickis.

Kaiser: Ja, und beide kennen sich schon aus der Gruppe' 47 und leben nun schon seit 45 Jahren sozusagen literarisch nebeneinander her. Und mittlerweile sind sie wie ein altes Ehepaar, das ist wohl das Problem. Auf der einen Seite ist da Martin Walsers übermäßige Kritikempfindlichkeit, auf der anderen Seite Marcel Reich-Ranickis Hang zum Extremen. Ein alter "Streit" zwischen Reich-Ranicki und mir: Ich werfe ihm immer wieder vor, daß er so wahnsinnig übertreibt. Bei ihm ist alles immer entweder "sehr gut" oder "ganz schlecht". Natürlich hält er mir dann vor, ich sähe das ganz falsch: Schon Lessing hätte festgestellt, der Kritiker müsse übertreiben! Doch ich meine, man neigt beim Argumentieren, wenn man ins Feuer gerät, schon von ganz alleine dazu, zu übertreiben, da kann man die Übertreibung nicht noch zusätzlich als ein Wirkungsmittel einsetzen. Es stoßen zwei Typen aufeinander: Hier der geistreiche alemannische Schwabe Martin Walser, dort der Berliner Intellektuelle Reich-Ranicki. - Ach, jetzt könnten Sie gewiß versuchen, mich in Verdacht zu bringen: Berliner Intellektueller? Das klingt doch so verdächtig jüdisch!

Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die als erste den Antisemitismus-Vorwurf gegen Wal-sers Buch erhoben hat, ließ nun Jan Philipp Reemtsma das Buch als "antisemitischen Affektsturm" qualifizieren.

Kaiser: Reemtsma meditiert in einem "kilometerlangen" Aufsatz in der FAZ über den Roman, den er übrigens ungewöhnlicherweise von vornherein verurteilt hatte, ohne ihn überhaupt gelesen zu haben. Eine Verlegenheit, aus der er sich am Anfang seines Artikels erst mal wortreich herauszuwinden versucht. Dann versucht er, Walser eines "Kontrollverlusts" zu überführen, der seinen Antisemitismus offenbart. Auch der Schriftsteller Klaus Mann hat in seinem "Mephisto" den Kniff des Schlüsselromans angewandt. Dabei war er schlau genug, Gustaf Gründgens nicht Gründgens, sondern Höfgens zu nennen. Dadurch konnte er mit der Figur frei umgehen. Dasselbe Recht muß man auch Martin Walser zugestehen, der Reich-Ranicki eben auch nicht Reich-Ranicki nennt, sondern Ehrl-König und ihn als Typus beschreibt. Natürlich hat die Figur viele Eigenheiten Reich-Ranickis, dazu gehört eben auch dessen jüdische Abstammung. Das hat aber nichts mit Antisemitismus zu tun.

Kann es sein, daß Sie das "antisemitische Muster des Textes partout nicht wahrhaben wollen", wie Reemtsma schreibt?

Kaiser: Tatsächlich spielt doch der Umstand, daß Ehrl-König Jude ist, im Roman gar keine große Rolle. Warum sollte er also kein Jude sein? Walser karikiert den Literaturpapst Reich-Ranicki, nicht den Juden Reich-Ranicki. Antisemitismus wäre es, griffe Walser ihn wegen seines Judentums an. Wenn Walser aber aus Sicherheitsgründen darauf verzichtet hätte, daß Ehrl-König Jude ist, dann hätte man ihm wohl vorgeworfen, feige zu sein.

Sie selbst sprechen in Ihrem Aufsatz in der "Süddeutschen Zeitung" von einer "fast pathologischen Kritik-Empfindlichkeit" Walsers und von seinem Buch als einem "literarischen Vergeltungsakt". Woher diese Wut?

Kaiser: Walser hat unter der Übermacht des "Literarischen Quartett" sicherlich sehr gelitten. Ich weiß von ihm, daß er einmal unter einer Kritik derart zusammengebrochen ist, daß er einen Psychiater befragt hat, wie man ihm nur helfen könne. Zum Glück traf er auf einen vernünftigen Mann, der ihm sagte: "Damit müssen Sie schon selber fertig werden." Es ist natürlich auch so, daß es im geistigen Leben auch Auseinandersetzungen extremer Positionen geben muß, denn das ist es, was vorwärts treibt. Wie sagte Karl Kraus: "Wenn Haß nicht produktiv macht, dann ist es besser, gleich zu lieben." Hinzu kommt, der Kritiker ist schließlich der einzige Berufsstand, der für seine Fehler nicht bezahlen muß, ganz anders als Regisseure, Autoren und Verleger. Egal, wie sehr sich ein Kritiker irrt, wieviel Unheil er anrichten mag, es geschieht ihm in aller Regel nichts. Und das ist nicht gut für den Charakter.

Auch wenn das Buch nicht antisemitisch ist, so kann man verstehen, daß es für Reich-Ranicki zutiefst verletzend sein muß.

Kaiser: Ohne Zweifel! Ich würde so etwas nicht über mich lesen wollen. Gleichwohl darf man so etwas schreiben.

Auch Reemtsma geht von einer tiefen Verletzung Walsers aus. Doch er diagnostiziert, "um sich den Kränkenden als kränkenden Juden zu imaginieren, muß ein antisemitisches Deutungsmuster vorhanden gewesen sein."

Kaiser: Der Vorwurf des Antisemitismus ist ein ganz gravierender Vorwurf, deshalb darf man ihn nicht nur irgendwie ahnen, sondern der Fall muß eindeutig sein! Antisemitismus stellte eine bösartige, absolute Haltung dar, die man klar benennen kann. Das ist bei Martin Walser nicht im entferntesten der Fall. Nun heißt es bei den Kritikern Walsers gern: "Wenn das nicht antisemitisch ist, was denn dann?" Das will ich ihnen sagen! Beispielsweise: "Mein Kampf" von Adolf Hitler. Antisemitismus ist nicht nur eine Nuance. Bedenken Sie doch nur, was Walser alles schon geschrieben hat: Den großartigen Auschwitz-Aufsatz im "Kursbuch". Oder "Eiche und Angora", oder das Stück "Der Schwarze Schwan", eine Chiffre für "SS". Dort nimmt er klar Stellung gegen die alten SS-Männer, die sich später als harmlose, feine ältere Herren geben. Walser hat sich also schon ernsthaft und seit Jahrzehnten mit dem Themen Deutsche Schuld und Antisemitismus beschäftigt, als andere noch kaum daran gedacht haben. Deshalb ist Martin Walser nun auch zu Recht empört über diese Vorwürfe.

Gerne lavieren Walsers Kritiker: Er sei vielleicht kein Antisemit, aber er habe nun ein antisemitisches Buch geschrieben. So auch Reemtsma, der auf diese Weise versucht, seine weitergehenden Anschuldigungen "faktenmäßig" abzustützen.

Kaiser: Diese Konstruktion ist logisch nicht zu halten. Nein, ich würde es so formulieren, Walser hat ein Buch geschrieben, das man - wenn man bestimmte Urteile über Juden hat - für antisemitisch halten kann. Der angebliche Antisemitismus des Buches scheint mir also eher externen Ursprungs zu sein.

Die Kritiker Walsers ziehen Muster aus dem Repertoire des Antisemitismus heran. Diese werden angelegt und dann wird befunden: Paßt!

Kaiser: Das würde ich die klassische Beschreibung für selektive Wahrnehmung nennen. Das ist doch Blödsinn, diese Muster passen auch auf ganz anderes: Meine Mutter zum Beispiel heißt Abramowski, daher werde ich immer wieder für einen Juden gehalten. Diese Art vorzugehen, offenbart lediglich ein ganz verjauchtes Denken. Wo in diesem Roman steht denn: "Weil er Jude ist, ...!" Das Problem bestand zunächst darin, daß Walsers Kritiker in der Presse meist alle gleich argumentieren: Denn kaum einer hat das Buch gelesen, einer bezieht sich mit seinem Urteil auf den anderen, der es aber auch wieder nur bei jemandem abgeschrieben hat.

Der Vorwurf des Antisemitismus sagt also nichts über das Buch aus, sondern über diejenigen, die diesen Vorwurf vorbringen?

Kaiser: Derart rigoros möchte ich das nicht formulieren. Deutschlands wahnsinnige Entwicklung im 20. Jahrhundert ist zweifellos Ursache enormer Reizbarkeit und höchst streitbarer Empfindlichkeit im öffentlichen Diskurs.

Ist unser Begriff von "Streit" zu eng, so daß wir immer gleich eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen Aufklärung und Faschismus sehen?

Kaiser: Nein, der Streit hat schlicht falsch angefangen: Der Roman lag noch gar nicht vor, da erhob Frank Schirrmacher in der FAZ schon den ungeheuren Vorwurf des Antisemitismus gegen Walsers Buch. Niemand konnte das Buch "gegenlesen". Schirrmacher hat dabei geschickt formuliert: Das Buch enthalte ein "Repertoire antisemitischer Klischees". Damit kann das Buch nun niemand mehr unbefangen lesen. Diese Debatte hat die Leser konditioniert: Die Leute lesen jetzt das Buch und suchen: "Ist das antisemistisch? Oder das? Oder das?"

"Falsch angefangen"? Also alles nur ein medialer Unfall?

Kaiser: Schirrmacher hatte natürlich das Recht zu entscheiden: "So geht das nicht, das bringen wir nicht!" Man muß auch Verständnis für seine Situation haben: Brächte zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung einen solchen Schlüsselroman gegen mich, wäre ich auch empört. Reich-Ranicki gehört zur FAZ - klar, daß Schirrmacher sich zur Solidarität verpflichtet gefühlt hat. Wenn er das Problem auch anders hätte handhaben können.

Sie sprachen zuvor vom "ungeheuren Vorwurf" des Antisemitismus, nun von "Verständnis für die Situation Schirrmachers"?

Kaiser: Er hätte vielleicht mit Walser telefonieren sollen, statt diesen Artikel zu schreiben. Aber Zeitungsleute haben eben ganz gerne Sensationen, das dürfte bei Ihnen auch nicht anders sein.

Offenbart die Vorliebe, uns gegenseitig des Antisemitismus zu zeihen, nicht die Neurotisierung unserer Gesellschaft?

Kaiser: Ja, allerdings finde ich diese Neurotisierung gar nicht so furchtbar schlimm. Sie ist mir lieber, als wenn man 1950 gesagt hätte: "Jetzt krempeln wir die Ärmel hoch und lassen das Gewesene einfach hinter uns." Daß die Menschen in Deutschland auf ein Ereignis wie den Holocaust hysterisch und forciert reagieren, sehe ich nicht negativ. Nur ein Beispiel: Der berühmte Schriftsteller Wilhelm Emanuel Süßkind, Vater von Patrick Süßkind, hatte in der Zeit des Nationalsozialismus eine relativ harmlose Kunst- und Literatur-Zeitschrift gemacht. Dennoch hat er sich dies nach 1945 so vorgeworfen, daß er mit Kunst und Literatur nichts mehr zu tun haben wollte. Statt dessen wurde er Politik-Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung - obwohl er von Politik wenig verstand. Er "bestrafte" auf diese Weise also nicht nur sich, sondern auch seine Leser. Solche Fälle gab es zahllose, und sie sind mir immer noch lieber, als wenn man den Holocaust verdrängt.

In den USA ist derzeit ein schwerer Streit um angeblich Israel-feindliche Berichterstattung der "New York Times" entbrannt. Bei uns hat ein ähnlicher Anlaß im Fall Jürgen Möllemanns bald zu dem üblichen, häßlichen deutschen Antisemitismus-Gezänk geführt.

Kaiser: Die Behauptung, daß die Deutschen die Kritik an Israel benutzen, um ihren Antisemitismus auszuleben, ist eben sehr schwer zu widerlegen. Und damit kommen Sie auch wieder auf das Walser-Problem: Wer einen jüdischen Kritiker kritisiert, muß Antisemit sein. Gegen diese Logik muß man sich wehren.

Ein weiterer Vorwurf gegen Walsers neues Buch lautet, es sei literarisch schlecht. Allerdings hat das allzu oft den Unterton der Genugtuung.

Kaiser: "Tod eines Kritikers" erhebt wirklich nicht den Anspruch, hohe Weltliteratur zu sein. Es will nicht die Grenzen des Sagbaren erweitern. Dieses Buch ist sozusagen ein Unterhaltungsroman. Nun zu bemängeln, daß es sich bei dem Roman nicht um einen zweiten "Zauberberg" handelt, wie Reemtsma das in der FAZ getan hat, ist, mit Verlaub, etwas dämlich. Es gibt aber auch faire Einschätzungen, die zu einem negativen Urteil kommen: Fritz Raddatz hat das Buch zwar in der Zeit gegen den Antisemitismusvorwurf in Schutz genommen, aber die Meinung vertreten, es sei literarisch miserabel. Diese Meinung teile ich allerdings nicht, denn Walser hat da schon so manches, den Literaturbetrieb entlarvende, sehr schön eingefangen. Ich möchte nur eines von vielen Zitaten, die ich zum Beleg anführen könnte, nennen: Außerordentlich gelungen ist etwa die Sentenz über Marbach: Bekanntlich sind alle Literaten stolz darauf, wenn sie in Marbach ins Literaturarchiv aufgenommen werden. Walser schreibt nun: "Marbach ist für relative Unsterblichkeit eine gute Adresse." Das ist doch zumindest enorm witzig.

Das heißt, das Buch wird seinen eigenen Maßstäben gerecht und ist demzufolge ein gutes Buch?

Kaiser: "Gutes Buch" wäre zuviel gesagt. Ich halte es für ein interessantes Pamphlet. Nach meiner Meinung kann es schon Walsers Wesen nach keinen geglückten Roman aus seiner Feder geben. Walser ist im einzelnen phantastisch und es fällt ihm da oft mehr ein, als den meisten anderen. Ein bißchen gleicht er da Jean Paul, denn einen abgeschlossenen, "runden" Roman bringt er irgendwie nie so recht zustande. Das ist zumindest meine Meinung, die aber auch falsch sein kann.

Die immer wieder zu hörende Kombination, das Buch sei zwar "nicht antisemitisch, aber schlecht", klingt oftmals wie eine Wiedergutmachung gegenüber der Gesellschaft dafür, daß man es doch nicht als antisemitisch bezeichnen konnte.

Kaiser: Da ist sicherlich was dran, denn es werden natürlich oft ästhetische Urteile benutzt, wenn andere Urteile erwünscht, aber nicht möglich sind. Denn auf ästhetischer Ebene ist nichts "beweisbar". Mag man Walser nicht, findet das Buch aber nicht antisemitisch, sagt man, es sei schlecht geschrieben. Doch das sollte man dann auch Punkt für Punkt plausibel belegen. Ich glaube, wenn die Leute den Roman jetzt lesen, werden sie dessen Qualitäten zu schätzen wissen; vor allem aber werden sie merken, wie brillant, leichtgewichtig, boshaft und hemmungslos das Buch im Grunde ist. moritz Schwarz

 

Prof. Dr. Joachim Kaiser der 1928 in Milken / Ostpreußen geborene Kaiser ist Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung und gilt als einer der bedeutendsten deutschen Theater-, Literatur- und Musikkritiker. Im Antisemitismus-Streit um den Roman "Tod eines Kritikers" ist er neben Sigrid Löffler der prominenteste Verteidiger Martin Walsers. Wie Walser und Marcel Reich-Ranicki war er Mitglied der Gruppe '47. 1951 wurde er Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Frankfurter Hefte, 1954 des Hessischen Rundfunks. Seit 1958 ist er Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, seit 1977 zudem Professor an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Künste in Stuttgart. 1993 erhielt Joachim Kaiser den renommierten Ludwig-Börne-Preis.

 

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