© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Das Geheul der Chorknaben
Zirkusäffchen in der Manege: Martin Walser, der "Tod eines Kritikers" und die Medien
Andreas Wild

Nun ist es also gekommen, wie es kommen mußte und wie es jeder hatte kommen sehen: Der neue Walser-Roman, "Tod eines Kritikers", ist da und findet reißenden Absatz, die Zeitungen sind verstopft mit umfänglichen Walser-Rezensionen, kein Kritiker mochte warten, konnte es gar nicht, denn die Leser forderten sofortige Stellungnahme und Meinungsabgabe. Das Walser-Buch ist das Thema der Saison und wird es mit Sicherheit eine ganze Weile bleiben, mindestens bis zur Frankfurter Buchmesse.

Zur Erinnerung: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hatte den Roman am 29. Mai, zu einem Zeitpunkt also, als er noch gar nicht erschienen war, noch nicht einmal als Druckfahne existierte, in brutalster Weise bezetert und niedergemacht, ihn als antisemitisches Machwerk und als Mordphantasie denunziert und seinen Autor, immerhin einen der bekanntesten und produktivsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, in den Verdacht krimineller Handlungen gebracht. Walser habe den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, einen "Überlebenden des Holocaust", in nicht nur unzulässiger, sondern geradezu verbrecherischer Weise parodiert und beleidigt.

Diese in der Geschichte des Buchwesens einmalige Aktion hatte die literarische Welt in verständliche Aufregung versetzt. Man wollte sich von der Triftigkeit der Vorwürfe überzeugen, konnte es aber nicht, weil es das Buch noch gar nicht gab. Für die "Chefkritiker" in den großen Redaktionen wurden vom Verlag in Windeseile einige (noch gar nicht zu Ende redigierte) E-Mail-Exemplare ausgegeben, und wochenlang geisterte das Buch als Schloßgespenst durch die Öffentlichkeit.

Jetzt ist das Buch endlich da, vom Verlag um Monate vorgezogen und mit einem Not-Schutzumschlag versehen, und die Medien überschlagen sich. Von Einigkeit kann freilich keine Rede sein, alllenfalls davon, daß die allermeisten Rezensenten (und zwar völlig zu Recht) das Buch keineswegs für ein antisemitisches Machwerk halten. Einzig die FAZ bleibt bei ihren abenteuerlichen Beschuldigungen, verschärft sie sogar noch und grenzt Walser regelrecht aus der Reihe der seriösen deutschen Autoren aus.

Ihr Rezensent, der als Organisator der sogenannten "Wehrmachtsausstellung" berüchtigte Hamburger Multimillionär und Soziologe Jan Philipp Reemtsma, spricht von einem "antisemitischen Affektsturm", dem Walser beim Schreiben ausgesetzt gewesen sei. Nach Art östlicher Parteirezensenten aus der Kommunistenzeit wird Walser von Reemtsma als Schreiber hingestellt, den man gar nicht ernst nehmen könne, weil er ein psychiatrischer Fall sei, in Wahnwelten lebe, in die Klapsmühle gehöre.

Andere Kritiker, die Walser nicht leiden können, weil sie ihn für einen Rechten, gar "Rechtsextremisten", halten, drücken sich diffiziler aus. Da der Roman "Tod eines Kritikers" fast nichts hergibt für genuin politische Debatten, weichen sie auf andere Walser-Bücher aus, auf seine Essaybände, seine Stellungnahmen zum politischen Tagesgeschehen. Jeder nationale, vaterländische Ton, den sie dort finden, wird dem Autor angekreidet und vorgerechnet. "Tod eines Kritikers", so die Methode, müsse schon deshalb bedenklich, gefährlich, "vormodern" oder einfach schlecht sein, weil Walser eben auch sonst, außerhalb seines Romans, ein unsicherer Kandidat sei, dauernd gegen die political correctness verstoße und ungeniert nach bedenkenswerten deutschen oder klassischen Geistestraditionen Ausschau halte.

Nur wenige Rezensenten erkennen das Spezielle und Neue an dem jetzt vorliegenden Buch: daß es - weit über die parodierte Figur des "Starkritikers" Reich-Ranicki hinaus - eine Geschichte über den modernen Literatur- und Medienbetrieb im Ganzen ist, eine grelle, aber ungemein treffende, wortmächtige (und zudem höchst amüsante) Parabel zum Thema "Verwandlung des Wortes in bloßes Bild, der Literatur in bloße Show, des geistigen Gesprächs in bloßen Event, der Innerlichkeit und des Gefühls in Prostitution und geile Unterhaltsamkeit".

Im Schlußteil des Buches, als der angeblich ermordete Kritiker längst wieder aufgetaucht ist, als er faktisch gar nicht mehr interessiert und man zu wichtigeren Fragen kommen kann, entfaltet Walser diese seine Parabel. Sie ist das Kernstück des Buches, dem sich die Diskussion nun, da sich der erste Sturm gelegt hat, in erster Linie zuwenden sollte: die Gläserne Manege, in der die Dichter und die, die glauben, etwas zu sagen zu haben, zu reinen Affen werden, zu Zirkusäffchen, die unterm Grölen eines völlig unzuständigen Publikums in aller Öffentlichkeit der "E-O-Kultur" opfern müssen; E für Ejakulieren, O für Orgasmus.

Zitat aus "Tod eines Kritikers": "Hemingway lag falsch, als er vorausgesagt hatte, es würde immer mehr Kritiker und immer weniger Schriftsteller geben. Mit der E-O-Kultur wurde das Schreiben in bestimmten Kreisen epidemisch. Dadurch wurden die Kritiker wichtiger, als sie je gewesen waren, wichtiger als die Schreibenden. Je mehr geschrieben wurde, desto weniger wurde gelesen. Als die E-O-Kultur global blühte, hatten einundsiebzig Prozent der Bevölkerung aufgehört zu lesen oder es gar nicht erst angefangen. Die Kritiker, jetzt Kritoren genannt, wußten noch, was einmal Literatur gewesen war. Daß sie noch lesen konnten, verschaffte ihnen eine Art religiöser Gewalt."

Stellen wie diese erweisen Walser als negativen Utopisten in der Tradition von George Orwell und Aldous Huxley, der die Utopie nicht einfach als farbiges Diagramm an den Horizont der Zukunft wirft, sondern sie als konkrete Drohung schon in der Gegenwart aufzuspüren weiß und für alle Leser hautnah fühlbar macht. "Tod eines Kritikers" ist nicht nur ein gut lesbares Buch, das einen respektablen Platz in der Hierarchie der Walserschen Werke einnimmt (JF 24/02), es ist auch ein für den modernen Diskurs wichtiges Buch, so wie es seinerzeit Huxleys "Brave New World" von 1932 war.

Man kann nur immer wieder den Kopf schütteln über die schnöde Vorausattacke gegen dieses Buch, die sich die FAZ geleistet hat, und die unsauberen Praktiken, derer sie sich dabei bedient hat. Inzwischen ist ein heftiger Streit entstanden zwischen der FAZ, die einen Vorabdruck des Walser-Romans ursprünglich in Aussicht stellte, und dem Suhrkamp Verlag, der ihn verlegt hat. Suhrkamp sah sich genötigt, extra eine Pressemitteilung herauszugeben, in der gewisse "Legenden" korrigiert wurden, die die FAZ vorher verbreitet hätte.

Demnach hat die Zeitung in Person ihres Literaturredakteurs Hubert Spiegel dem Verlag einige Male versichert, daß es - wie in früheren Jahren - zu einem Vorabdruck des neuen Walser-Romans kommen werde. Dann, drei Wochen nach Übergabe der Rohfassung, sei plötzlich, ohne die geringste Vorwarnung, der berüchtigte Alarmartikel des Mitherausgebers Schirrmacher gegen Walser erschienen. Nun fragen sich viele, wer da von außen in die FAZ hineinregiert haben mag.

 

Fototext: Martin Walser: Tod eines Kritikers. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 219 Seiten, geb., 19,90 Euro

Fototext: Literarisches Quartett mit Hellmuth Karasek, Jürgen Busche, Marcel Reich-Ranicki und Iris Radisch (v.l.n.r.) am 14. Dezember 2001: In Walsers Roman heißt die Sendung des Großkritikers Ehrl-König, in der aus Schriftstellern Spaßobjekte und Opfer werden, "Sprechstunde".


 
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