© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/02 05. Juli 2002

 
Tanz um die Unsterblichkeit
Literaturbetrieb: Martin Walser hat eine bissig-böse Parodie geschrieben, das humoreske Potential aber nicht voll ausgeschöpft
Wilhelm Setzer

Die Gesinnungsschnüffler und Walserverfolger, die sich seit Frank Schirrmachers offenem Brief an den Autor einer nach dem anderen zu Wort melden, ähneln immer mehr blinden Eiferern und bigotten Hexenjägern. Anscheinend fürchten sie um ihre Meinungspfründe. Der Autor Walser kann indessen keinen Satz mehr formulieren, den die Denunziantenschar nicht sogleich aufs übelste auslegt. Jedes Beschreibungsdetail, eine niedere Stirn, eine zerknautschte Nase, alles wird ihnen zum Indiz antisemitischer Hetze. Er kann sich nicht mehr wehren, er ist abgestempelt. Diejenigen, die das skrupellos tun, halten sich selbst für Tugendwächter, für die Repräsentanten von Toleranz und Menschenrecht. Auch das ist ein uraltes Schema.

Der Roman "Tod eines Kritikers" enthält keine antisemitischen Ausfälle, dafür glänzende Einfälle, äußerst witzige Motive, umwerfend komische und groteske Figuren. Es könnte durchaus der Entwurf zu einer großen Weltsatire sein, im Focus der maßstabsverkleinerten, liliputmäßigen Bundesrepublik.

Leider aber hat Martin Walser es versäumt, seine verteufelt lustige Windmaschine überall auf Höchsttouren zu bringen. Dazu hätte gehört, kein Stäubchen Erzähl-Gold zu vergeuden und die wiederkehrenden Themen und Leit-motive noch inniger zu verknüpfen - mit der Schneelandschaft über München, die alle Spuren und üblen Rachegelüste verbirgt und zudeckt, mit dem Föhn, der alles zu Tode Verurteilte, alles Be- und Enthauptete wieder löscht und auflöst.

Und die Hauptidee, daß ein viel gehaßter und gefürchteter Tyrann, kaum ist er verschwunden, sofort Mord-Phantasien, blutige Wünsche ins provinzielle Kraut todschicker Wichtigheimer schießen läßt, diese kuriose humoristische Idee wäre es wert gewesen, daß er sie noch subtiler in jeden Erzählstrang, in jede Figurenkonstellation eingewoben hätte.

Unwillkürlich drängt sich dafür der Vergleich mit Gogols Revisor auf, der den korrupten Beamten jener russischen Kleinstadt in Gestalt jedes durchreisenden Fremden sofort heimleuchtet in die eigenen Schuldgefühle - ganz ähnlich jener Schmierenkomödie, in welcher unseren politisch korrekten Zeitgeistredakteuren der Antisemitismus als Gespenst fest im Nacken sitzt, das sie jetzt auf alles mögliche projizieren müssen. Die armen Irrenden, die sich zwanghaft immerzu von einem bösen Selbstverdacht reinwaschen müssen, indem sie zur Hatz auf ihre medienmäßig zugerichteten Sündenböcke blasen. Dagegen hilft nur die drastischste Komik und die böseste Satire. Der absurde Bierernst hierzulande, wie ihn soeben wieder die Gesinnungspolizisten Jan Philipp Reemtsma und Jochen Hörisch gegen Martin Walser auftischten, ist scheinbar unverwüstlich.

Der blutbefleckte Cashmere-Pullover des Groß-Kritikers auf dem Kühler seines Jaguars wird sofort von all seinen Fans, Opfern und Komplizen als Indiz einer gräßlichen Bluttat wahrgenommen und fortgesponnen. Am Ende stellt es sich als Indiz banalen Nasenblutens heraus. Das ist famos, operettenhaft komisch erdacht, und hätte das Aufbruchssignal einer Krimikomödie sein müssen. Aber leider interessiert den Autor dieses gefundene Fressen überhaupt nicht. Walsers Kommissar, der auf diesem wackeligen, trügerischen Signum eines blutigen Pullovers eine volle Phantomlast als polizeiliche Analyse auftischen möchte, ist unglaubwürdig, ja geradezu wie ein Simpel gezeichnet. Das ist schade, denn es hätte sich gewiß gelohnt, auch das lukrative Krimigenre bei dieser Gelegenheit ans Narrenseil zu kriegen.

Anti-Autoritäre unterwerfen sich einem Tyrannen

Die Posse beginnt also mit einem Mordverdacht. Der Erzähler erfährt davon in Amsterdam und muß erst zurückreisen nach München, wo das virtuelle Verbrechen geschah. Es gibt keine Leiche, dafür einen Verdächtigen in Untersuchungshaft. Es läßt sich übersetzen: es gibt keinen Antisemiten, dafür einen Sündenbock, gejagt von politisch korrekten Eiferern und Pfaffen. Später wird er sogar in die Psychiatrische Klinik nach Haar eingeliefert.

Der sofort Festgenommene, Tatverdächtige ist des Erzählers Landolf flüchtiger Freund, der Schriftsteller Hans Lach. Dieser rastete aus nach der Literatursendung "Sprechstunde", in der sein neuestes Buch von André Ehrl-König verrissen wurde. Aggressiv attackierte Lach deshalb seinen Peiniger. Dabei kam es zu dem schlimmen, an Hitler erinnernden Satz: "Ab heute nacht Null Uhr wird zurückgeschlagen." Die Partygesellschaft in der Bogenhausener Luxusvilla des Verlegers Ludwig Pilgrim zeigt sich entsetzt und man entfernt den Störer unverzüglich aus der Szene. Wenig später brach Stargast Ehrl-König auf, mit Cosima von Syrgenstein, einer ehrgeizigen Schriftstellerin, die auf Ehrl-Königs Liste, also von ihm im Fernsehen demnächst drangenommen werden wollte, wenn ihr neuer Roman erst fertiggestellt sein würde. Zu diesem Behufe zog sie nun mit ihrem König Midas in ihr Bett. In München schneite es indessen unaufhörlich.

Hans Lach verweigert den Ermittlern von Anfang an jede Auskunft, er schweigt verbissen. Michael Landolf, sein alter ego, recherchiert und interviewt nun einen Zeugen nach dem andern, denn er ist von Anfang an überzeugt von der Unschuld des Freundes Hans Lach. Diese Recherche ist sozusagen der Motor der Romanhandlung. Am Schluß - es taut, der Föhn ist gekommen - taucht Ehrl-König wieder auf, lebt, verreißt wieder Bücher und wird von der englischen Königin sogar noch geadelt. Der Verleger Ludwig Pilgrim ist inzwischen gestorben. Seine saturnisch-esoterisch angehauchte Gattin, Julia Pelz, die es sogar, wie man munkelt, mit Picasso und zwar im Stehen getrieben habe und die ebenfalls Dichterin ist, verbringt ihre Trauerzeit mit Hans Lach auf dem spanischen Anwesen des Verlegers. Und ganz am Ende zieht sich Hans Lach, - welch insgeheimer Imperativ schwingt in dem Namen mit - ins Gebirge zurück, wo er weiter arbeiten wird an seinem Essay: Von Seuse zu Nietzsche.

Hans Lach war übrigens kein anderer als der Erzähler Landolf selbst.

In dieser Haupthandlung versammeln sich noch viele kleine Abzweigungen und Seitenstories, Storykeimlinge. Das äußerste Ende enthält sogar noch eine Science-fiction-Version der Zukunft, die nicht einfach fortläuft, sondern herausspringt aus der Jetztzeit, in ein schaurig- globales Bio-Technopolis. Dennoch: all diese Einschübe, Seiten- und Nebenstränge der Posse verraten zwar den möglichen Bauplan eines Labyrinths, doch sind sie nicht konsequent und präzise genug konstruiert. Denn man kann auf sie verzichten, will man von der Hauptsache reden.

Was sich da in der Hauptsache nämlich enthüllt, ist die traurige Seelen-Lage einer Gesellschaft, die ihre begabten kreativen Ehrgeizlinge bestraft sehen möchte, öffentlich vernichtet von einem schrecklich auftrumpfenden Scharfrichter und Krakeeler, dem nahezu alles erlaubt ist. Der Abgrundriß eines dekadenten Betriebs tut sich auf, in welchem perverse Ticks, degoutante Partialtriebe und bösartige Intrigen ein buntes Völkchen von Sadomasochisten durcheinanderwirbeln, das, besessen von Ruhmsucht und Gier nach Geltung, nach Liebe, sich öffentlich entblößt. Denn sie wähnen in ihren schamlosen Kämpfen um vorderste Plätze bei den Fleischtöpfen, bei den Hauptquoten, bei Biolek, ja sogar im Kanzleramt, sie glauben tatsächlich, dort ginge es um ihre fixe Idee von Unsterblichkeit. Schließlich ist nicht nur "Marbach für relative Unsterblichkeit eine gute Adresse", wie es im Roman einmal heißt, sondern auch das Fernsehen. Dort kehrt alles immerzu wieder und wieder.

Diese schnöde Ersatzreligion, die Walser hier und da anspielt, läßt einen mit dem grausam eitlen Phrasendrescher, alias André Ehrl-König, schließlich sogar Mitleid empfinden. Welche Qual hat dieser arme Teufel zu erleiden, allein mit sich. Seine öffentlich zelebrierte Exzentrik erscheint gleichsam als eine Flucht vor sich selbst. Wo er ankommt aber, wo er geliebt und kultisch verehrt wird, repräsentiert er mehr als nur sich selbst, ist er zugleich Symptom für andere, gemeine Zustände dort. Und das ist das eigentliche Thema des Romans. Wie ist seine zwanghafte Mission, den nach Macht und Ruhm süchtigen Richter geben zu müssen, abrechnend, schulmeisternd, verreißend - wie ist das überhaupt möglich in einer so freizügig, sich so demokratisch dünkenden Gesellschaft?

Hier muß wohl einiges faul sein, wo selbst die Linksliberalen, die ehemals Anti-Autoritären sich einem Geschmacks- und Geschwafel-Tyrannen unterwerfen, wie einst die Untertanen in Alfred Jarrys Gruselkabinett des Ubu roi. An diesen erinnert André Ehrl-König mehr noch als an Marcel Reich- Ranicki, dem gewiß auch einige Haupt-Charakteristika entlehnt sind.

Und in der Tat, die windelweichen opportunistischen Reaktionen auf den Roman bezeugen es: Der gesamte literarische Betrieb scheint diesem eitlen Prahlhans hörig zu sein. Professoren, Wirtschaftsbosse, Verleger, Fernsehgewaltige beeilen sich, dem Literaturpapst kniefällig ihre Dienste anzubieten. Das hat ganz offensichtlich nichts mit deren literarischer Halbbildung zu schaffen, sondern gründet wohl im erzalten blinden, auch in der Literaturszene keineswegs überwundenen Sklavenglauben an die Macht. Und diesen Macht-Kult verkauft der rudernd bramarbasierende Manichäer auch noch als Aufklärung in der Tradition Lessings.

Auf der linken Flußseite der Suhrkampkultur hat man eben die Geschichte nicht weniger verfälscht als vormals auf der rechten. Diese Erkenntnis wird jetzt reif und fällig. Der Roman steht ziemlich genau an der Schwelle dieser Dämmerung.

Die erzählerische Ökonomie stimmt keineswegs überall

Wie erbärmlich komisch in diesem Zusammenhang das Geschwisterpärchen Henkel. Seit je "links, aber von der Bibel her" outen sie sich, Reiner Heiner und Ilse-Frauke, als Drahtzieher und Regisseure des Großkritikers. Das von ihnen erzogene und ständig mit Bildungshappen gefütterte Großmaul - und das ist wirklich großartig erfunden - zieht seinen sadomasochistischen Anhang als todgewünschtes, todgedachtes Phantom fast noch unerbittlicher und zugleich erbarmungswürdiger in seinen Bann, denn als lebende Fernsehlegende.

Wie beinah anrührend komisch ist das Henkel-Pärchen verzeichnet, schwärmerisch plappernd, im ranzigen Pathos ihres schon abgelebten Lebens. Rainer Heiner Henkel und seine Schwester Ilse-Frauke von Ziethen sitzen auf dem Sofa wie zwei Vögel, "lange Hälse, schmalste Gesichter, ruckartige Kopfbewegungen, große Augen, seine Hände wie sich entfalten wollende Flügel. Sie anwesend mit der sanften Betulichkeit, die man bei Vogelweibchen beobachten kann, am meisten bei Enten." Noch einmal sind sie voller Mitteilungsdrang nach dem vermeintlichen Tode ihres Lieblings, mit dem man zuletzt ja, nach einem schrecklichen Krach, in Trennung gelebt habe.

Der gnadenlose Verreißer und Vernichter der Autoren und ihrer Bücher genießt seine Macht, wenn er die Objekte seiner Willkür wie in der blutig unaufgeklärten Vorzeit entweder schlecht oder gut, entweder zu Opfern oder zu Erwählten, ja Erretteten verwandelt. Ja oder nein, zu den Böcken oder zu den Schafen.

Ein tiefes Trauma wird sichtbar. Aber die grausige Opfer-Täter- Dialektik wird salonfähig, begafft und nobilitiert von einer Fernsehquote, der es nie um Literatur geht, sondern einzig um den Kitzel der Hinrichtung. Entweder - oder: Schafott oder Weihe der Krönung, Sexappeal des Erfolgs. Hier wird das Kasperlespiel grausig geil und grotesk. Hier verläßt den Ironiker Walser der Humor, hier hätte ich mir kein Gran weniger Boshaftigkeit des Satirikers gewünscht, sondern mehr Chaos, rascheres Tempo, mehr Reflexion auf ein irres, ins Monumentale gesteigertes Gelächter. Denn der Heuchelei der politischen Pfaffen, der säkularen "Priesterkaste", wie Helmut Schelsky einmal sagte, ist im ironischen Konjunktiv allein nicht beizukommen. Diese tötet einzig der gröbste Zerrspiegel ihrer Lächerlichkeit.

Heinz Schlaffer sprach jüngst davon, daß die moralinsaure Mediokrität der Nachkriegsliteratur auch damit erklärt werden könne, daß diese weniger von genuinen Literaten und Dichtern als von "politisch engagierten Publizisten mit literarischen Ambitionen" redigiert und regiert werde.

Aber was kümmert's die Chorknaben? Ihnen geht es jetzt wie anno '68 um Wichtigeres: um die Gefahr des Antisemitismus. Als gäb' es nicht wirklich genug Antisemiten, wollen sie, um sich moralisch blütenrein zu waschen, auch jene noch zu Antisemiten stempeln, die es partout nicht sind und gar nie sein wollen. Welch eine Strategie?

Die bissig-böse Parodie auf den stutzerhaft-öden Literaturbetrieb ist notwendig, ja überfällig und als höchst aktuell zu begrüßen. Doch gelingt es dem Autor leider nicht, die darin angelegten kritischen und humoresken Potentiale voll zu entfalten. So ließ er Motive einfach liegen, statt sie weiter zu spinnen. So greifen die Episoden und Figuren nicht genügend ineinander, sondern enden in einer Karikaturen-Galerie des episodenhaften Nacheinander. Man wäre auf so viele Begegnungen noch gespannt gewesen und muß oft mit weniger aufregenden Figuren vorliebnehmen. Auch der Wechsel von Beschreibung, Charakterisierung und Bericht erscheint oft mehr zufällig, denn genau kalkuliert. Die erzählerische Ökonomie stimmt noch keineswegs überall.

Kurz: Die Idee Walsers ist originell, doch die Ausführung leider nicht ganz geglückt. Das ist schade. Sehr schade. Denn sonst hätte unsere Literatur in ihrer Knechtsgestalt als Betrieb eine Atempause lang befreit über sich und ihren politisch erpreßten Ernst auflachen dürfen.

Schriftsteller Walser: "Was sich in Walsers Roman in der Hauptsache enthüllt, ist die traurige Seelen-Lage einer Gesellschaft, die ihre begabten kreativen Ehrgeizlinge bestraft sehen möchte"

 

Wilhelm Setzer, 53, ist promovierter Literaturwissenschaftler und arbeitet als freier Autor für den Rundfunk und verschiedene Zeitungen.


 
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