© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   28/02 05. Juli 2002


Hauruck-Aktion zur Wahl
Die Vorschläge der Hartz-Kommission werden die Arbeitslosigkeit nicht halbieren
Jörg Fischer

Wenn er es nicht schaffe, die Arbeitslosenzahl unter 3,5 Millionen zu drücken, habe er es nicht verdient, wiedergewählt zu werden, sagte Gerhard Schröder kurz nach seiner Amtsübernahme im Oktober 1998. Im Wahljahr 2002 fällt die rot-grüne Bilanz mager aus: Die Zahl der Erwerbslosen wurde nur um eine halbe Million reduziert - die Vier-Millionen-Marke wird derzeit nur knapp unterschritten, das neue Zuwanderungsgesetz erhöht die bisherige Nettozuwanderung von jährlich etwa 200.000 um mindestens weitere 100.000 Ausländer. Im EU-Vergleich lag Deutschland im Mai mit einer Arbeitslosenquote von 8,1 Prozent über dem EU-Durchschnitt von 7,6 Prozent.

Wenn der Kanzler zweieinhalb Monate vor der Bundestagswahl am 22. September bei Wahlkampfauftritten die Schuld auf die US-Konjunktur oder die Terroranschläge vom 11. September schiebt, so reicht das nicht mehr aus, um sein Scheitern schönzureden - bewirbt sich doch mit CSU-Chef Edmund Stoiber ein in Bayern äußerst erfolgreicher Ministerpräsident fürs Kanzleramt.

So machte der gewiefte Wahlkämpfer Schröder aus seiner Not eine Tugend und nutzte den Skandal um geschönte Vermittlungsstatistiken der Arbeitsämter zu seinem Vorteil: Erst ersetzte er Arbeitsamtspräsident Bernhard Jagoda (CDU) durch seinen Parteigenossen Florian Gerster, der mit forschen Privatisierungsvorschlägen und einem exorbitanten Salär von 250.000 Euro für Wirbel sorgte. Gersters 1.500-Euro-Vermittlungsgutscheine waren ein kapitaler Flop - 50jährige Maurergesellen können auch private Agenturen nicht unterbringen. Doch über eine Million Arbeitslose sind älter als 49, sechzig Prozent der Firmen beschäftigen niemand über 50 Jahre.

Um statt Erfolgen wenigstens Wirtschaftskompetenz vortäuschen zu können, macht sich Schröder nun für die "Vorschläge der Kommission zur Weiterentwicklung der Arbeitsmarktpolitik und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt der Arbeit" stark, die geeignet sein sollen, die Arbeitslosenzahl bis 2005 zu halbieren. Und einige der bislang bekannten 13 "Innovationspakete" des von VW-Personalvorstand Peter Hartz geleiteten Gremiums haben es in sich, sie könnten auch dem Arbeitgeberverband oder einem Volkswirtschaftsseminar entstammen: Das aus Versicherungsbeiträgen resultierende Arbeitslosengeld soll generell auf ein Jahr begrenzt werden. Im zweiten Jahr gibt's Arbeitslosenhilfe, danach nur noch "Eingliederungsgeld" auf Sozialhilfeniveau. Wenn ein Arbeitsloser ein Stellenangebot ausschlägt, muß er "beweisen", warum es für ihn unzumutbar ist. Jüngere und alleinstehende Arbeitslose müssen bereit sein, für eine Stelle innerhalb des gesamten Bundesgebiets umzuziehen. Jeder, der länger als drei bis sechs Monate arbeitslos ist, muß sich der angegliederten neuen Zeitarbeitsfirma des Arbeitsamtes zur Verfügung stellen.

Hätte 1998 der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm ähnliches angekündigt, wären SPD und Gewerkschaften Sturm gelaufen und die Wahlpleite wäre für die Union noch dramatischer geworden. "Wenn die Bundesanstalt keine Arbeitsplätze hat, ändert sich für die Arbeitslosen gar nichts; nur daß sie statt Arbeitslosengeld als Leiharbeitnehmer bezahlt werden - ob höher, niedriger oder gleich hoch ist auch noch völlig offen", kritisierte Blüm daher die Hartz-Vorschläge in der Neuen Osnabrücker Zeitung. Denn die 15köpfige Hartz-Kommission macht keine Vorschläge, um das Arbeitsplatzangebot auszuweiten, sondern entwickelt hauptsächlich Druckmittel, um die - meist im unionsregierten Süden Deutschlands vorhandenen - offenen Stellen besser besetzen zu können.

Doch wie soll ein arbeitsloser Nichtraucher aus Neubrandenburg zum Kellnern in verräucherten Münchner Bierkellern gezwungen werden? Allein die dortigen Mieten sind so hoch, daß der schmale Lohn fast draufgeht. Auch die Qualifizierung vieler Arbeitsloser läßt zu wünschen übrig, ehemalige Textilfacharbeiterinnen können württembergische Maschinenbauer nicht gebrauchen - trotz Weiterbildung. Und wieviele der arbeitslosen Berliner Türken will Hartz bei VW in Wolfsburg einstellen?

Derzeit beziehen fast 1,5 Millionen Erwerbslose Arbeitslosenhilfe. Eine Verkürzung der Bezugsdauer auch für Ältere ist eine Durchlöcherung des Versicherungsprinzips - ein 50jähriger hat in der Regel jahrzehntelang eingezahlt. Ihn auf eine Stufe mit 25jährigen "Berufssozialhilfeempfängern" (die immer einen Trick finden werden, sich vor Arbeit zu drücken) zu stellen, ist unverantwortlich.

Werden nach zwei Jahren die Sozialhilfevorschriften wirksam, so muß zuerst das zusammengesparte "kleine Häuschen" in die Zwangsversteigerung, auch Erspartes fürs Alter bleibt nicht verschont. Nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn dann ein Arbeitsloser in Emden oder dem Erzgebirge Amok läuft, weil er nichts mehr zu verlieren hat.

Die dramatische Beschäftigungssituation in den neuen Bundesländern lösen die Hartz-Vorschläge ebenfalls nicht. "Unser Problem sind doch die fehlenden Arbeitsplätze", mahnte daher Sachsens DGB-Chef Hanjo Lucassen. "In Duisburg ist die Arbeitslosigkeit zwar auch hoch, aber dort haben die Leute wenigstens etwas auf der hohen Kante", so der SPD-Politiker in der Sächsischen Zeitung. Die Befristung der Arbeitslosenhilfe wird nach Einschätzung des Deutschen Städtetags sechs von zehn Arbeitslosenhilfeempfänger in die Sozialhilfe treiben. Wo aber freie Stellen fehlten, müsse eine hauptsächlich auf Vermittlung zielende Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ins Leere laufen, warnte Städtetagsgeschäftsführer Stephan Articus kürzlich in der FAZ.

Arbeitslose ab 55 können sich laut Hartz ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld und -hilfe bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres komplett auszahlen lassen. Sie "verschwinden" damit aus der Arbeitslosenstatistik. Wie ist das aber mit der geplanten, bis auf 67 Jahre hochgesetzten Lebensarbeitszeit vereinbar? Nur wenige werden auch in der Lage sein, sich in einer Einzel- oder Familien-AG selbständig zu machen und 20.000 Euro pro Jahr zu erwirtschaften. Eine erfolgreiche unternehmerische Tätigkeit setzt eine Geschäftsidee voraus, ein Produkt oder eine Dienstleistung, die auf dem Markt bestehen kann (siehe Beitrag auf Seite 11).

Wirtschaftliche Not allein reicht nicht aus. "Die Ich-AG dient faktisch der Beförderung eines Niedriglohnsektors. Davon geht die Gefahr aus, daß Teile von Stammbelegschaften ersetzt werden durch Scheinselbständige", meint Verdi-Gewerkschaftschef Frank Bsirske. Dabei führte Rot-Grün erst 1999 ein Gesetz gegen die Scheinselbständigkeit ein - ob Schröder das schon vergessen hat?


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