© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/02 12. Juli 2002

 
Ostpreußen als Belohnung für den Sieg erhalten
EU-Erweiterung: Im Streit um einen Korridor nach Königsberg könnte Rußland Litauen mit Gebietsansprüchen drohen
Carl Gustaf Ströhm

Je näher der "Schicksalstag" der EU-Osterweiterung rückt, desto härter stoßen sich im Raum die Probleme - wobei, wenn es sein muß, auch noch "schlafende Hunde" geweckt werden. So reagieren einflußreiche Kreise Rußlands mit offenem Druck, wenn nicht gar Drohungen, weil sie beim Thema EU-Beitritt von ehemaligen Sowjetrepubliken nationale Interessen in Gefahr sehen.

Obwohl die EU bislang klar zu verstehen gab, daß es nach einem Beitritt Polens und Litauens für russische Enklave "Oblast Kaliningrad" keine Sonderregelung im Blick auf die dann fällige Visumspflicht bei der Durchreise russischer Staatsbürger zwischen Nordostpreußen und Rußland geben könne und EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) die mißtrauischen Balten mit der Formel beschwichtigte, es werde keine Übereinkunft der EU mit Rußland "auf Kosten Dritter" geben - läßt man in Moskau nicht locker.

Jetzt hat der stellvertretende Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses der Duma, Sergej N. Schischkarjow in Zusammenhang mit der Osterweiterung den Litauern die Rute ins Fenster gestellt. In einem ziemlich scharfen Artikel für die Moskauer Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta kündigte der Abgeordnete für den Fall, daß die EU auf einer Visumpflicht für Russen beim Transit durch die künftigen Mitgliedsstaaten Litauen und Polen bestehe, Gebietsanforderungen Moskaus gegenüber Litauen an. Rußland könne nämlich jederzeit das seit der "Memelkonvention" des Völkerbundes 1924 litauische und 1939 ans Deutsche Reich zurückgegebene Memelland für sich beanspruchen.

Auf dem jüngsten Gipfel zwischen EU und Rußland in Moskau wurde dem russischen Präsidenten Wladimir Putin klar gemacht, daß die Bewohner von Kaliningrad sich bei Reisen in das russische Mutterland den dann in Kraft tretenden Schengen-Regeln der EU - und damit der Visumpflicht - unterwerfen müßten. Vorher hatte Brüssel russische Vorschläge, zwischen Ostpreußen und Weißrußland einen (exterritorialen) "Korridor" auf litauischem Gebiet einzurichten, strikt abgelehnt.

Ein anderer russischer Vorschlag, den fast ausschließlich russischen Bewohnern von Kaliningrad einen Sonderstatus zu gewähren und sie von der Sichtvermerkspflicht zu befreien, fand in Brüssel gleichfalls keine Gegenliebe. Bis jetzt reisen russische Staatsbürger visumfrei durch litauisches Gebiet von oder nach Königsberg/Kaliningrad oder Tilsit/Sowjetsk.

Hier nun hakt der Abgeordnete Schischkarjow ein. In seinem Aufsatz unter der Überschrift "Die Schengen-Zone des doppelten Standards" schreibt er, die Sowjetunion bzw. die Russische Sowjetrepublik habe nach dem Zweiten Weltkrieg das gesamte ehemalige "von der Roten Armee befreite" Ostpreußen als Belohnung für den Sieg über Hitler erhalten. Dieser habe 1939 die (deutschen) Bewohner Memels vom Balkon des dortigen Staatstheaters begrüßt. Über den Anschluß Ostpreußens an die Sowjetunion hätten sich die Alliierten 1945 auf der Konferenz von Potsdam geeinigt. 1949 habe die Russische Sowjetrepublik das "Klaipeda-Gebiet großherzig der Litauischen Sowjetrepublik überlassen".

Schischkarjow erinnerte daran, daß der erste Präsident des unabhängigen Litauen, Vytautas Landsbergis, bereits in den ersten Tagen alle "Akten des sowjetischen Okkupationsregimes" für null und nichtig erklärt habe. Dann aber sei auch das Abkommen der Litauischen Sowjetrepublik über die Übergabe des Memelgebietes null und nichtig, folgert der russische Dumaabgeordnete.

Außerdem unterläßt es Schischkarjow nicht, das kleine Litauen - die südlichste der drei baltischen Republiken gehörig bei den westlichen Staaten anzuschwärzen. In der Europäischen Union, so schreibt der russische Parlamentarier, habe man keine Ahnung, was für ein Staat dieses Litauen sei und was für eine Last er für die Steuerzahler der anderen EU-Mitgliedsländer darstellen werde.

Erst dieser Tage hat die russische Staatsduma auf Vorschlag des Abgeordneten Witaliji Lednik, von der Kreml-treuen "Einheits-Fraktion", dem außenpolitischen Ausschuß des Parlaments empfohlen, dieser möge vom Außenministerium die Streichung des russisch-litauischen Grenzvertrages von der parlamentarischen Tagesordnung verlangen. Dieses Dokument haben die damaligen Präsidenten beider Staaten, Boris Jelzin und Algirdas Brazauskas, am 24. Oktober 1997 in Moskau unterschrieben. Während das litauischen Parlament den Vertrag bereits 1999 ratifizierte, sollte die Duma erst im kommenden Herbst zur Tat schreiten.

Jetzt droht Moskau angesichts der neuen Streitigkeiten mit Brüssel wegen Kaliningrad, die Grenzvertrags-Ratifizierung ins Wasser fallen zu lassen - solange bis das Damokles-Schwert von Schengen und die Visumpflicht nicht entfernt wurden. Dem Schachzug der Duma ist eine gewisse Raffinesse nicht abzusprechen: Ohne einen beiderseitigen ratifizierten Grenzvertrag mit Moskau könnte Litauen weder der EU noch der Nato beitreten, denn beide Organisationen nehmen grundsätzlich keine Mitglieder auf, die offene territoriale Probleme mit Nachbarn haben.

Der Duma-Abgeordnete Viktor Alksnis legte in der Debatte noch eine Schaufel nach, um den Litauern einzuheizen und den Westen in Verlegenheit zu bringen. Er erinnerte daran, daß es außer der Klaipeda-Frage auch noch Vilnius (Wilna) gebe und ferner Gebiete, die Litauen im August 1940 (bereits als Sowjetrepublik) von der weißrussischen Sowjetrepublik als "Geschenk" erhalten habe. Die beiden - seit 26. Januar 2000 wieder in einer Union verbündeten - Staaten Rußland und Weißrußland (Belarus) könnten leicht mit dem kleinen Litauen fertig werden - und überdies blickten auch die Polen mit unguten Gefühlen auf Vilnius, das von 1920 bis 1939 zu Polen gehörte. Anders gesagt: den Litauern wird nicht nur mit dem Verlust ihres einzigen Seehafens, sondern auch noch mit dem Verlust ihrer Hauptstadt gedroht. Und: Alksnis' Angebot könnte auch dazu dienen, zarte Bande zu den seit den letzten Wahlen gestärkten EU-kritischen "Nationalisten" im polnischen Sejm zu knüpfen, die sich bislang noch stramm anti-russisch gebärden.

Der russische Druck scheint in Litauen bereits seine Wirkung zu tun. Der gegenwärtige litauische Ministerpräsident (und frühere Staatspräsident) Algirdas Brazauskas erklärte bereits, sein Land habe mit den visumfrei einreisenden "Kaliningrad-Russen" noch nie Schwierigkeiten gehabt. Litauen wolle die visumfreie Regelung auch weiter beibehalten und sei gegen die Anwendung der Schengen-Regeln. Immerhin sind visumfrei herumreisende Russen besser als ein Korridor.


 
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