© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/02 19. Juli 2002

 
Der Kuchen wird nicht größer
EU-Politik: Im Ringen um die Neuverteilung der Agrarsubventionen könnte Deutschland einen Kurswechsel durchsetzen
Peter Lattas

Für das kleine gallische Dorf gibt es nur eine Chance, wenn es vor Invasionen der streitlüsternen Nachbarn aus dem Osten verschont bleiben will: Listige Krieger müssen sich über die Grenze schleichen und mit Zaubertrank x-beliebige Goten zum Aufstand anstacheln, bis jeder dort selbst "Chef aller Goten" werden will. Wenn nämlich das ganze Gotenvolk im heillosen Bürgerkrieg der Duodezfürsten mit sich selbst beschäftigt ist, hat es auch keine Zeit mehr, Nachbarländer zu überfallen.

Die Comic-Satire "Asterix und die Goten" von Albert Uderzo und René Goscinny enthält auf knapp 50 gezeichneten Seiten mehr Wahres über die deutsch-französische Befindlichkeit als so manche Politiker-Festrede von diesseits oder jenseits des Rheins. Die Bildergeschichte von den beiden schlauen Galliern, die elegant die tumben, brutalen, pickelhaubigen, im Stechschritt marschierenden und Frakturschrift redenden Germanen austricksen, bringt eine jahrhundertealte Traditionslinie französischer Außenpolitik auf den gezeichneten Punkt. Sie reicht von Heinrich II. (1547-1559), dem ein Ratgeber die goldene Regel nahelegte, "die deutschen Angelegenheiten unter der Hand im Zustand der größtmöglichen Schwierigkeiten zu halten", über Richelieus "équilibre germanique", das die französische Sicherheit unter Ausnutzung der "anarchie allemande" zu gewährleisten suchte, bis zu dem Ernest Renan zugeschriebenen Bonmot, "Ich liebe Deutschland so sehr, daß ich am liebsten zwei davon habe". Die Gleichung: Deutschlands Schwäche ist Frankreichs Stärke, Deutschlands Einheit ist Frankreichs Gefahr, ist tief in den Köpfen der französischen Polit-Eliten verwurzelt.

Seit 1648 mischt sich Frankreich offensiv ein

Ohne diesen psychologischen Subtext ist das vielzitierte "Ende einer Sonderbeziehung" im deutsch-französi­schen Verhältnis nicht zu verstehen. Die Zeiten der "innigen Freundschaft" zwischen den einstigen Erbfeinden sind weder durch Bundeskanzler Schröders Pochen auf eine Neuordnung der europäischen Agrarfinanzen noch durch Außenminister Fischers Grundsatzreden über einen europäischen Bundesstaat beendet worden - in diesem Punkt irrt die Unions-Opposition gewaltig. Die Grundlage der während der Adenauer-Ära in geradezu mythischen Rang erhobenen deutsch-französischen "Freundschaft" war bereits mit der Wiedervereinigung entfallen. Aus französischer Sicht hat erst die deutsche Teilung eine Verständigung der "schwierigen Nachbarn" ermöglicht, weil durch sie zum ersten Mal seit 1870 ein Gleichgewicht zwischen beiden Ländern entstanden sei. Die europäische Einigung war unter diesen Vorzeichen eine Fortsetzung der traditionellen französischen Deutschlandpolitik mit anderen Mitteln und auf neuen Bahnen.

"Droit de regard", heißt die Formel für diese Linie, wie der lothringische Diplomat Werner Rouget herausgearbeitet hat: "Recht auf Einflußnahme". Im westfälischen Frieden von 1648 hat Frankreich erstmals ein formelles Aufsichtsrecht über die deutschen Angelegenheiten erringen können. Das wurde zur fixen Idee. Das Verlangen nach Einsichtnahme steht hinter den napoleonischen Aufräumaktionen im deutschen Territorial-Flickenteppich, liegt den Besatzungsrechten des Versailler Vertrages ebenso zugrunde wie der Nachkriegs-Deutschlandpolitik der mit viel Glück doch noch zur Siegermacht des Zweiten Weltkriegs gewordenen französischen Republik.

Die weitergehende fixe Idee, sich Deutschlands durch Eliminierung als politische Größe ganz zu entledigen, konnte Frankreich weder in Versailles noch nach 1945 durchsetzen. Der Wille war da: Kein Reich, keine Zentralregierung, statt dessen Konföderation der verbleibenden rechtsrheinischen und Anschluß der linksrheinischen Gebiete an Frankreich, lauteten die Maximen der Besatzungspolitik Charles de Gaulles der ersten Jahre, die in der Förderung der Kleinstaaterei in der französischen Zone und im Versuch der Herauslösung des Saarlandes ihren Ausdruck fanden. Diese ganz an den Parametern der Vergangenheit - Rheinbund und "natürliche Grenze" - orientierte Deutschlandpolitik scheiterte an den anderslautenden geopolitischen Plänen der USA, die Rumpfdeutschland als Baustein für ihr sicherheitspolitisches System benötigten.

Die Europapolitik wies der französischen Diplomatie den Ausweg. Konnte man Deutschland nicht restlos zerschlagen, so konnte man es doch einbinden. Die Montanunion, Keimzelle der Europäischen Gemeinschaften, bot Ersatz für die ausgebliebene Internationalisierung des Ruhrgebiets - ganz im Geiste des 19. Jahrhunderts hielt man Kohle und Stahl für das Rückgrat industrieller, wirtschaftlicher Macht. Die Europaverträge erfüllten Frankreichs sehnlichen Wunsch nach Einflußnahme auf die deutschen Verhältnisse, sie bestätigten - so die These Werner Rougets - sein "droit de regard". Zunächst durchaus nicht nur zum Nachteil Deutschlands: Adenauers Bundesrepublik erkaufte sich auf diese Weise die beschleunigte Aufnahme in den Kreis der geachteten Staaten.

Was damals ein kluger Schachzug schien, stößt heute an die Grenzen der Finanzierbarkeit. Denn aus den ersten europäischen Vergemeinschaftungen, die unverkennbar die Handschrift französischer Präventivpolitik gegenüber dem "Erbfeind" trugen, entwickelte sich eine immer feiner gesponnene und immer weitere Lebensbereiche überwuchernde Bürokratie, die unter dem Vorwand der europäischen Einigung eine riesige und uneffektive Umverteilungsmaschinerie aufbaute. Zum größten Moloch in dieser Konstruktion wuchs die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) heran: Die Finanzierung des Agrarsektors verschlingt allein Jahr für Jahr 40 Milliarden Euro - fast die Hälfte des gesamten EU-Etats. Der Löwenanteil geht in Direktzahlungen an die Landwirte. Davon profitiert vor allem die französische Landwirtschaft.

Als größter Nettoprofiteur möchte Frankreich an der gemeinsamen Agrarpolitik nichts wesentliches geändert haben. Bundeskanzler Schröder hat dagegen, etwas spät, ausgerechnet, daß nach dem Beitritt der ost- und mitteleuropäischen Kandidaten die Ausdehnung der Direktbeihilfen auf alle 25 Mitgliedstaaten acht Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr verursachen würde. Für den Bundeshaushalt setzt Schröder eine Zusatzbelastung von zwei Milliarden Euro an - wohl noch zu niedrig, da der Nettozahleranteil Deutschlands eher bei über dreißig Prozent als bei einem Viertel liegt. Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet über die Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik ein ernsthafter Konflikt ausgebrochen ist, der im Kern ein deutsch-französischer Streit ist. Dabei geht es um mehr als um Geld: Es geht auch um das Festhalten am stärksten jener Taue, mit denen Frankreich den deutschen Gulliver sicher gefesselt wähnt.

Daß der status quo der ersten europaseligen Jahre nicht ewig halten konnte, war den Realisten in Frankreich schon länger klar. Schon im Jahre 1966, kaum drei Jahre nach dem Elysée-Vertrag, der Frankreich eine zusätzliche Rückversicherung durch die spezielle Anbindung Deutschlands geben sollte, konstatierte General de Gaulle Verständigungsprobleme: "Diese Schwierigkeit scheint von dem Augenblick an unvermeidbar, wo Deutschland nicht mehr der höfliche und anständige Verlierer ist, der vom Sieger Gnadenerweise zu erhalten sucht. Die Deutschen verspüren heute in sich die Wiedergeburt elementarer Kräfte, und sie sind von neuem Ehrgeiz getragen. Was uns angeht, werden wir ihre wachsende Dynamik nicht mitmachen."

Die Bekenntnisse zur deutschen Wiedervereinigung im Elysée-Vertrag waren wohlfeil: Niemand glaubte daran, daß sie ernsthaft eintreten könnte, nicht einmal die Mehrheit der Deutschen selbst. Als sie dennoch eintrat, war sie wieder da, die Angst vor den Deutschen, die den Deutschen so peinlich ist. "Die Angst vor Deutschland ist jetzt schon die stärkste politische Kraft in Europa", polemisiert Philippe Delmas in seiner im Jahr 2000 erschienenen Streitschrift "Über den nächsten Krieg mit Deutschland". Und: "Was immer Deutschland sagt oder tut - es wird die Befürchtungen seiner Nachbarn nicht zerstreuen."

Dabei war dafür gerade kein Opfer zu groß. Angefangen mit der Deutschen Mark, neben den Goldmedaillen der Sportler bekanntlich die wichtigste Säule der deutschen Nachkriegsidentität. Der Euro, Preis der deutschen Einheit? Je eilfertiger sich die Dementis häufen, desto sicherer scheint die Bestätigung. Der Leitartikler der konservativen Tageszeitung Le Figaro, der den Maastricht-Vertrag einst als "Versailles ohne Krieg" bezeichnete, schien den Nagel auf den Kopf zu treffen: Die Deutschen gingen Verpflichtungen ein, deren finanzielle Folgen niemand voraussagen kann.

Je emphatischer sich deutsche Politiker zur Aufgabe der eigenen nationalen Identität bekennen, desto größer das Mißtrauen. Wenn schon Deutschland zur weitgehenden Aufgabe nationaler Souveränität bereit ist, sollten alle anderen, und Frankreich besonders, es doch ebenso halten, lautet die Erwartung. Frankreich aber denkt nicht daran - de Gaulles Formel vom "Europa der Vaterländer" gilt fort. Hinter dem deutschen Ruf nach einem weitgehend integrierten deutschen Bundesstaat - Joschka Fischer ist da im übrigen nur ein gelehriger Schüler Helmut Kohls - wittert man verkapptes Hegemoniestreben. Von Anfang an haben Deutschland und Frankreich völlig unterschiedliche Europa-Konzepte verfolgt. Doch anders als in den sechziger Jahren schafft die bevorstehende EU-Osterweiterung eine Situation, in der man sich nicht mehr auf wolkige Visionen in ungewisser Zukunft hinausreden kann. Die Diskussion muß jetzt geführt werden.

Der heftige Streit um die Reform der Agrarpolitik, den die Vorschläge von Landwirtschaftskommissar Franz Fischler - ein Österreicher - ausgelöst haben, ist vor diesem Hintergrund keine Katastrophe, sondern eine Chance. Immerhin geht es bei den Reformansätzen des Fischler-Berichts, der eigentlich nur eine Halbzeit-Bestandsaufnahme zur 1999 beschlossenen "Agenda 2000" sein sollte, in die richtige Richtung. Daß Direktbeihilfen pauschaliert und gedeckelt werden, daß Zahlungen ferner an Marktchancen und nicht an Produktionsmengen orientiert sein sollen, hat einen richtigen Hintergedanken: Die Bauern sollen bei der betrieblichen Produktionsplanung nicht bloß daran denken, das Optimale an Fördermitteln herauszuholen. Nach dem bisherigen System wird permanent zu viel produziert, die Preise sinken, die EU muß mehr zu Garantiepreisen aufkaufen, die Subventionen steigen. Der ganze Unsinn der zentral dirigierten Agrar-Planwirtschaft manifestiert sich in diesem Teufelskreis.

Sicher ist es richtig, daß Landwirtschaft nicht nur marktwirtschaftlich zu betrachten ist, sondern auch ein Kulturgut darstellt und als Quelle der Grundversorgung der Bevölkerung aus dem jeweiligen Lande selbst bewahrt werden muß. Richtig ist auch, daß der Beitrag der Landwirte zur Pflege der Kulturlandschaft entgolten werden muß. Die Frage ist nur: Muß das alles von Brüssel aus geschehen?

Trotz allen Streites sind Berlin und Paris einig in der Ablehnung einer Obergrenze für die Förderung von Großbetrieben - der eine denkt an die Champagne, der andere an Mecklenburg-Vorpommern. Ein Indiz, daß der Konflikt im Feilschen steckenbleibt. Für eine echte Reform braucht es mehr: Die Abschaffung überflüssiger Vergemeinschaftungen wie der "Gemeinsamen Agrarpolitik".

Die französische Parole vom "Europa der Vaterländer" verdient es, endlich wörtlich genommen zu werden. Staaten haben nämlich keine Freunde, sondern Interessen. Und über diese müssen sie sich auseinandersetzen. Eine "Freundschaft", die nicht auf gemeinsamen Interessen ruht, ist Folklore - egal, ob Schröder, Chirac, Jospin und ihre Außenminister im Januar 2001 ein sentimentales Sauerkrautessen im Elsaß veranstalten oder ob Kanzlerkandidat Stoiber einen "neuen Elysée-Vertrag" als "deutsch-französischen Gründungspakt" ins Leben rufen möchte. Deutschland braucht keine Sonderbeziehung zu Frankreich, um seine Interessen durchzusetzen; im europäischen Konzert sind wechselnde Koalitionen möglich. Vorausgesetzt, man definiert seine Interessen und setzt klare Prioritäten.

Deutschland hat keine richtige Machtkultur

Nicht die deutsche Stärke an sich verursache den Nachbarn Unbehagen, sondern seine Unfähigkeit, damit umzugehen, konstatiert Delmas: "Deutschland hat keine Machtkultur." Berlin muß sich entscheiden, wozu es sein politisches Gewicht gebrauchen will. Führungsmacht im östlichen Mitteleuropa zu sein, ist nur eine von vielen Alternativen. Die argwöhnischen Blicke, mit denen Frankreich jeden deutschen Schritt nach Osten verfolgt, muß eine deutsche Regierung aushalten können, ohne zurückzuzucken. Sie muß darüber hinaus fähig sein, eigene Interessen im Rahmen der Osterweiterung durchzusetzen. Das Versäumnis, den EU-Beitritt Tschechiens, Polens, der Slowakei und Sloweniens an die Beseitigung jeder die deutschen Vertriebenen diskriminierenden Gesetzgebung und Rechtsprechung zu knüpfen, war kein Meisterstück. Welcher französische EU-Kommissar hätte je so offen gegen französische Interessen gerichtete Politik verfolgt, wie Erweiterungskommissar Günter Verheugen (SPD) in seiner zynischen Behandlung der Heimatvertriebenen deutsche Interessen der reibungslosen Realisierung der Osterweiterung zu den Konditionen der anderen untergeordnet hat?

Der Wunsch, in einem europäischen Einheitsstaat aufzugehen, ist ein Ausdruck von deutscher Unsicherheit und Schwäche, der nicht ins 21. Jahrhundert paßt. Der Ballast der Vergangenheit, der vor allem den französischen Wünschen nach Oberaufsicht über Deutschland diente, muß endlich abgeworfen werden. Handschellen fesseln im übrigen nicht nur den Gefangenen an den Wächter, sondern auch umgekehrt. In einem Europa der Vaterländer ließen sich dagegen nicht nur französische Interessen leichter verwirklichen, sondern auch deutsche. Von Asterix lernen heißt siegen lernen - das gilt auch für die bisweilen etwas begriffsstutzigen Goten.


 
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