© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/02 19. Juli 2002

 
Pankraz,
E. Wiechert und der Weg ins einfache Leben

Simplify your life" heißt auf gut neudeutsch ein Buch von W. T. Küstenmacher und L. J. Seiwert, das sich zur Zeit reißend gut verkauft, weil es hohe Erwartungen weckt (die es dann nicht einlöst). Eine Sehnsuchtssaite wird angeschlagen. Sein Leben "vereinfachen" und dadurch glücklich werden - das ist der Traum vieler, die unter der Komplexität ihrer Partnerbeziehungen und der Kompliziertheit ihrer Steuererklärungen stöhnen.

Hinzu kommt, daß das "einfache Leben" schon von vielen Geistesgrößen verklärt und idealisiert worden ist, von Meister Eckhart bis Niklas Luhmann. Einfachheit stand und steht nicht nur für Bescheidenheit und schlichte Verhältnisse, sondern auch für Übersichtlichkeit und logische Prägnanz, Erleuchtung und Wahrheit.

Einfältigwerden, "sich einfalten": das war für Meister Eckhart im Mittelalter der Königsweg zur Erkenntnis, an dessen Ende sich kein geringerer als Gott selbst offenbarte. Und für Niklas Luhmann, den vor einigen Jahren verstorbenen Systemtheoretiker, lieferte "Abbau von Komplexität" geradezu den Schlüssel für jegliche Existenzbehauptung. Wer nicht vereinfachte, simplifizierte, der war gar nicht in der Lage, im Spiel der Kräfte überhaupt wahrgenommen zu werden.

Mathematiker beruhigen sich erst, wenn ihre Formeln auf ein Optimum von Einfachheit und Knappheit reduziert sind. Nur knappe, einfache Formeln sind für sie schöne Lösungen. Das Ideal der Schönheit sehen sie in der Simplizität ihrer Formeln, nicht anders im Grunde als viele Kunsttheoretiker und Literaten, die mit Leidenschaft einige wenige "klare" Formen, bzw. Stilelemente befürworten und vor jedem barocken Überschwang zurückschaudern.

Freilich zeigt nun gerade die Mathematik, daß nicht Einfachheit an sich begehrt ist, sondern immer nur Einfachheit als Resultat schwieriger, höchst komplexer Rechen- und Wegkürzmethoden. Das "einfache Leben" ist, zumindest für Mathematiker, nie und nimmer naturgegeben, die Natur ist von Haus aus ein Wust über- und gegeneinander wuchernder Ungleichgewichte, man muß sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, um sie verstehbar und beherrschbar zu machen, muß sich mutig ins Meer der Ungleichheiten und Unübersichtlichkeiten stürzen, um sie in übersichtliche, einfache Gleichungen zu verwandeln.

Die Einfachheit erscheint demnach immer erst als Lohn der hochkomplexen Lebens- und Denkmanöver. Wir leben im Sinne der Mathematiker einfach, indem wir das Leben vereinfachen, nicht aber indem wir "einfach" leben. "Einfach" leben heißt, bei Lichte betrachtet, gerade nicht, in der Einfachheit und für die Einfachheit zu leben, sondern es heißt, sich der spontanen, wildwuchernden Komplexität der Natur auszuliefern, sich von ihr vereinnahmen und aussaugen zu lassen. Man kann das auch "in der Dummheit leben" nennen.

Viele Ratschläge in dem Buch "Simplify your life" (übrigens erschienen im Campus Verlag in Frankfurt am Main) laufen auf solches "in der Dummheit leben" hinaus. Man soll dies und das links liegen lassen, nicht so wichtig nehmen, einfach ignorieren, soll seinen Aufmerksamkeits-Horizont freiwillig verengen, sich auf "das Wesentliche" konzentrieren usw. Wer das blindlings befolgt, der mag sich vielleicht in manchen Situationen tatsächlich "glücklicher" fühlen als ein nervöser Wahrnehmungsfanatiker, aber er verdummt eben à la longue, bildet geistige Elefantenhaut aus, wird stumpf gegenüber den feineren Valeurs der Wirklichkeit und muß auf böse Überraschungen gefaßt sein.

Natürlich leben wir in einer Zeit der geistigen und sinnlichen, vor allem visuellen, Zumutungen. Instanzen fordern von uns Aufmerksamkeit und Anteilnahme, deren Beachtung nicht nur überflüssig, sondern für den eigenen Seelenhaushalt und das eigene Wohlergehen schlicht schädlich, manchmal tödlich ist. Es ist nötig, ein verläßliches Sensorium gegen derlei Zumutungen auszubilden. Doch die Simplifizierung qua Wegsehen und Sichverschließen (das in den USA neuerdings von einigen Individualisten propagierte cocooning) wäre genau der falsche Weg.

Statt dessen wird fällig eine ständige Schärfung der sozialen Wahrnehmungs-Rezeptoren, und zwar in einem solchen Maße, daß sie in kürzester Frist ein Höchstmaß an Übersicht und Urteilskraft gewinnen. Wir müssen gewissermaßen alle Mathematiker werden, d.h. verläßliche Operatoren des Entscheidens und präzise Ahnungen ausbilden nebst einem unstillbarem Interesse für die mögliche "Schönheit", also Einfachheit, einer Konstellation, mit der sich dann auch leben läßt.

Mit Sicherheit ist dies kein "einfaches" Leben im Stile des berühmten Romans von Ernst Wiechert, kein von Resignation geprägter Rückzug aus der Welt im Namen "reiner Menschlichkeit". Wer einen solchen Rückzug heute versucht und für sich arrangiert, verfehlt die Menschlichkeit gerade und mit ihr die Einfachheit. Nicht abschalten ist das Gebot, sondern einschalten, auswählen und sich selber gegebenenfalls einklinken.

Man braucht dabei keine Angst zu haben, wider Willen "vernetzt" zu werden, zum Gefangenen eines Netzes zu werden, in dem alle Fische gleich sind, nämlich gleichmäßig zu Fischfilet verarbeitet werden. Nicht jeder komplexe Zusammenhang ist gleich ein Netz. Und auf komplexe Zusammenhänge kommt es nun einmal an, gleichgültig ob einer in den Hackeschen Höfen zu Berlin oder auf einer entlegenen Lapplandinsel mit Katze und Kuh residiert.

Nur aus dem intensiven und kontinuierlichen Sicheinlassen mit der Komplexität kann die Einfachheit erwachsen, die ihrerseits - günstigstenfalls - ein gelebter Augenblick ist, ein vergängliches "Nu", um mit Meister Eckhart zu sprechen. Oder: Wer "einfältig" werden will, muß etwas zum Einfalten haben, eine Weltfülle. Anders geht es nicht.


 
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